Der Wachsblumenstrauß
das wäre unerhört, typisch Cora!«
»Sie hat die Bemerkung nicht ernst genommen?«
»Nein. Nein, da bin ich mir sicher.«
Das zweite Nein klang in Poirots Ohren ein wenig zögernd. Aber war das nicht immer der Fall, wenn man in Gedanken eine Situation noch einmal durchging?
»Und Sie, Madame – haben Sie sie ernst genommen?«
Helen Abernethie, deren Augen unter den grauen Locken sehr blau und erstaunlich jung wirkten, blieb nachdenklich. »Doch, Monsieur Poirot, ich glaube schon«, sagte sie.
»Wegen Ihres Gefühls, dass etwas nicht ganz stimmte?«
»Vielleicht.«
Er wartete auf eine Antwort, aber da sie weiter nichts sagte, fuhr er fort: »Mrs Lansquenet und ihre Familie waren einander seit vielen Jahren entfremdet?«
»Ja. Keiner von uns konnte ihren Ehemann leiden, und sie war darüber beleidigt, so dass die Entfremdung immer größer wurde.«
»Und dann ist Ihr Schwager völlig unvermutet zu ihr zu Besuch gefahren. Weshalb?«
»Ich weiß es nicht – wahrscheinlich wusste oder ahnte er, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, und wollte sich mit ihr versöhnen. Aber das weiß ich wirklich nicht.«
»Er hat es Ihnen nicht gesagt?«
»Mir?«
»Ja. Sie waren doch hier, bei ihm, bevor er zu ihr fuhr. Hat er Ihnen von seinem geplanten Besuch nichts erzählt?«
Poirot vermeinte, plötzlich eine gewisse Reserve zu spüren.
»Er erzählte mir, dass er seinen Bruder Timothy besuchen wollte – und das hat er auch getan. Von Cora sagte er kein Wort. Sollen wir ins Haus gehen? Es wird bald Mittagessen geben.«
Mit den Blumen, die sie gerade gepflückt hatte, ging sie neben ihm her zum Seiteneingang. Als sie ins Haus traten, fragte Poirot: »Sind Sie sicher, absolut sicher, dass Mr Abernethie während Ihres Aufenthalts hier nichts über ein Mitglied der Familie sagte, das wichtig sein könnte?«
»Sie klingen wie ein Polizist.« Helens Abwehr war jetzt deutlich zu spüren.
»Ich war früher tatsächlich Polizist – vor langer Zeit. Ich habe keinen offiziellen Status, ich habe kein Recht, Sie zu befragen. Aber Sie wollen die Wahrheit herausfinden – das wurde mir zumindest gesagt.«
Sie betraten das grüne Esszimmer. Helen seufzte. »Richard war von der jüngeren Generation enttäuscht«, antwortete sie. »Das sind alte Menschen oft. Er hat sich ziemlich abschätzig über sie geäußert, aber da war nichts – nichts, verstehen Sie –, das ein Mordmotiv liefern könnte.«
»Ah«, machte Poirot. Helen wählte eine chinesische Vase und begann die Rosen darin anzuordnen. Nachdem sie mit dem Arrangement zufrieden war, sah sie sich nach einem geeigneten Platz für den Strauß um.
»Sie haben ein bewundernswertes Geschick mit Blumen, Madame«, sagte Hercule Poirot. »Ich glaube, alles, was Sie in die Hand nehmen, führen Sie mit Perfektion aus.«
»Danke. Ich liebe Blumen sehr. Ich finde, die Rosen würden sich gut auf dem grünen Malachittisch machen.«
Auf diesem Tisch stand ein Strauß Wachsblumen unter einer Glasglocke. Als sie ihn fortnahm, meinte Poirot beiläufig: »Hat irgendjemand Mr Abernethie erzählt, dass der Ehemann seiner Nichte Susan fast eine Kundin vergiftet hätte, als er ein Rezept zusammenstellte? Oh, pa r don!«
Er machte einen Satz nach vorne.
Das viktorianische Gesteck war Helen aus der Hand geglitten, und Poirot war nicht schnell genug. Die Schale fiel zu Boden, die Glasglocke zerbrach. Unmutig verzog Helen das Gesicht.
»Wie unachtsam von mir. Aber den Blumen ist nichts passiert. Die Glasglocke lässt sich ersetzen; ich werde mich darum kümmern. Jetzt stelle ich sie erst einmal in den großen Schrank unter der Treppe.«
Poirot half ihr, die Schale in dem dunklen Schrank zu verstauen, und folgte ihr wieder in den Salon. »Das war meine Schuld«, sagte er. »Ich hätte Sie nicht erschrecken dürfen.«
»Was hatten Sie mich gefragt? Ich hab’s vergessen.«
»Ach, es ist nicht nötig, die Frage zu wiederholen. Ich habe sogar selbst vergessen, worum es ging.«
Helen trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Monsieur Poirot, gibt es einen einzigen Menschen, dessen Leben einer näheren Überprüfung standhalten würde? Ist es wirklich nötig, das ganze Leben von Menschen in diese Sache hineinzuziehen, die nichts zu tun haben mit… mit…«
»Mit dem Tod von Cora Lansquenet? Ja. Weil man alles in Betracht ziehen muss. Es ist in der Tat wahr – eine alte Weisheit –, dass jeder von uns etwas zu verbergen hat. Das trifft auf alle Menschen zu – vielleicht auch
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