Der Wachsmann
ein Weibsbild!« murmelte er. Gleichwohl war der mißtrauische Pfleger zuvörderst geneigt, an ein teuflisches Trugbild zu glauben.
»Hat es Euch die Sprache verschlagen?« fragte der Engel mit sanftem Lächeln und schwebte zwei Stufen entgegen.
»W-i-r…« formten Peters Lippen tonlos. Er brachte kein Wort heraus und stieß seinen Begleiter unsanft in die Seite.
»Ja, wir…« versuchte Paul klarzumachen, »wir wollten…, wir hätten gern… den Ratsherrn Pütrich möchten wir sprechen.«
»Tretet doch näher!« flötete die Lichtgestalt. Das Wesen schwebte nun bis zum ersten Treppenabsatz herab und nahm dabei zunehmend irdische Gestalt an. Die beiden Pfleger stiegen zaghaft ins erste Obergeschoß und folgten der hübschen, jungen Frau in ein geräumiges, helles Zimmer.
»Wenn Ihr hier bitte warten wollt«, vertröstete sie die Schönheit und entschwand.
Paul pfiff bewundernd durch die Zähne. »So könnte ich mir meine Behausung auch vorstellen. Der alte Raffer versteht es, sein Geld gut anzulegen.«
Die Wände des Zimmers waren teilweise getäfelt, die Deckenbalken rotbraun gestrichen. Durch drei geteilte Fensterrahmen, die mit hauchdünnem, geöltem Pergament bespannt waren, drang auch an Regentagen Helligkeit. Jetzt ergoß sich durch einen geöffneten Laden die Morgensonne auf den sorgfältig geschrubbten Dielenboden und tauchte den zur Straße hin gelegenen Teil des Raumes in warmes, freundliches Licht. Die Möblierung war ungewöhnlich reich und erlesen. Die schwere Tischplatte auf gekreuzten Schragen in der Mitte des Zimmers umstanden sechs Kastenstühle mit hoher, kunstvoll geschnitzter Lehne. Auf dem Tisch befand sich vornehmes Zinngeschirr mit Resten einer reichlichen Morgenmahlzeit. In Fensternähe ruhten auf einem kleineren Tisch Geschäftsbücher, Rechentafel und Schreibgerät, davor ein filigran gearbeiteter Scherenstuhl venezianischer Herkunft. Rechts vor dem Fenster erhob sich ein schmales Schreib-und Lesepult. Die Eingangsseite zierte ein byzantinischer Wandteppich mit herrlicher Bildstickerei, und die gegenüberliegende Längsseite dominierte eine reich verzierte Truhe, auf der ein fein gearbeitetes Salzgefäß stand. Darüber hing eine hölzerne Tafel mit dem Wappen der Pütrichs.
Peter fragte sich, ob dies die Prunkstube des Hauses war, in der Gäste empfangen wurden, oder ob sie dem Alten als Arbeitsraum und Kontor diente oder eine Mischung aus beidem war. Da fiel sein Augenmerk auf ein Kastenschränkchen im rückwärtigen Teil des Raumes, der etwas im Schatten lag. Die Türen waren halb geöffnet, und Peter staunte über den Inhalt. Zuunterst standen zwei Reihen von Folianten und Handschriften in kostbaren Ledereinbänden, zum Teil goldbedruckt. Auf den oberen Regalbrettern lagen seltsame Steine und Wurzeln, Schoten und nußartige Früchte ausgebreitet, reihten sich Leinensäckchen und Lederbeutelchen, aus denen es nach Kräutern duftete. An den Innenseiten der Türflügel, die mit seltsamen Zeichen versehen waren, hingen getrocknete Sträußchen, die nach Misteln und Johanniskräutern, Palmzweigen und Ähren sowie nach Blumengebinden des Antlaßtages aussahen. Den Mittelteil des Schränkchens nahm ein eigenes Fach ein, das vermutlich abgesperrt werden konnte. Jetzt aber war die Lade heruntergeklappt und gab den Blick frei auf eine metallene Kassette, eine kostbare venezianische Karaffe und mehrere Becher aus grünem Waldglas. Auf der Lade selbst stand einer dieser Becher, bis zum Rand mit Wein gefüllt. Und daneben bot sich dem Betrachter ein silberbeschlagenes Kästchen von erlesener Feinheit dar, wie es Peter nie zuvor gesehen hatte. Der Deckel des Kunstwerks stand offen, und weiße und rote Seidentücher hingen heraus. Neugierig trat Peter näher, lugte in das Kästchen hinein und erschrak zutiefst: Ein bleiches, runzeliges Männlein starrte ihn an, so lebensecht und dennoch tot. Es sah aus wie eine grob geschnitzte Puppe, doch bei näherem Besehen schien es eher eine Wurzel zu sein, die so verzweigt und knorrig gewachsen war, daß sie menschenähnliches Aussehen bekam.
Peter winkte aufgeregt seinen Begleiter herbei: »Wofür hältst du das?«
»Ganz einfach«, grinste Paul. »Der Pfeffersack säuft heimlich und das schon morgens, und unsereinem wirft er einen guten Schluck vor.«
»Nein, Paul, doch nicht den Wein. Das hier!«
Doch Paul kam nicht mehr zur Begutachtung, denn auf der Treppe waren Lärm und die polternde Stimme des Kaufmanns zu hören, und die beiden Pfleger
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