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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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bedurft? Nein, dies hatte etwas zu bedeuten. Unter der Annahme, daß es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um einen Racheakt der Flößer handelte, fielen Peter dazu nur zwei Möglichkeiten ein: Entweder wollte jemand es so aussehen lassen, um damit einen Verdacht abzuwälzen, oder die Bedeutung war überhaupt eine gänzlich andere.
    Peter setzte sich am Ufer der Isar auf einen großen Stein, um zu rasten und etwas zur Ruhe zu kommen. Wie war doch noch alles ganz anders gewesen vor wenigen Tagen. Die Aussicht, des Mörders habhaft zu werden, erschien zwar immer geringer, aber es war wieder Frieden eingekehrt in der Stadt. Die Menschen hatten aufgeatmet, waren zufrieden und fühlten sich nicht mehr bedroht. Und er hatte schon geglaubt, daß alles ein Ende habe. Wie einfältig von ihm. Über Nacht hatte das unheimliche Morden wieder begonnen, und wer würde das nächste Opfer sein?
    Peter spürte, wie sich die Klauen der Schwermut nach ihm reckten. Er schaute trüben Sinns über die Wasser der Isar hin, die sich gleichförmig und doch in stetem Wechsel, schäumend und spritzend, gurgelnd und glucksend nach Norden wälzten. Wo war ihr Ursprung? Wo flössen sie hin?
    Peter beneidete die Flößer, die ein wenig mehr hinter dieses Geheimnis blicken durften, indem sie die Flüsse befuhren und er beneidete sie nicht, wenn er an die Gefahren und manch hartes Los dachte.
    Er blickte zum Himmel empor, wo sich eine riesige Herde weißer Schäfchen drängte, und er kam sich mit einem Mal unendlich klein vor, unbedeutend und nichtig; denn was waren schon er, oder diese Stadt, oder der Krieg, oder all diese Morde angesichts der Ewigkeit, außer daß Gott die Verfehlungen der Menschen niemals vergaß.
    Die Worte des Juden fielen ihm ein. »Wie im Großen, so im Kleinen.« Der unscheinbare Mensch als Abbild des Universums. Und hatten ihn nicht die Mönche unter Berufung auf Thomas von Aquin gelehrt, daß der Allmächtige auch allgegenwärtig und in jeder seiner Kreaturen lebendig sei? Dann mußte jedes seiner Geschöpfe von Bedeutung sein, und sei es noch so klein.
    Galt dies etwa auch für einen Mörder, oder hatte Gott sich von ihm zurückgezogen? Was, wenn Menschen töteten, um damit Gott wohlgefällig zu sein; wenn einer glaubte, der Sache des Herrn zu dienen, indem er mordete?
    Der Gerechte wird seine Hände waschen im Blute des Sünders. So oder so ähnlich hatte ein Vers des Psalms gelautet, den sie beim Peitinger gefunden hatten. Und Peter erinnerte sich, wie ihn damals am Tag zuvor ein kalter Schauer durchfuhr, als Bruder Guntram von den Qualen und dem Geschrei der Verdammten sprach, und wie sich die Seligen daran erfreuen würden. Er sah es noch ganz deutlich vor sich, wie des Bruders Augen in feurigem Eifer geleuchtet hatten. Aber Mord? Könnte auch ein Bruder Guntram im Namen der Gerechtigkeit morden? Niemals! Wahrscheinlich war es nur eine Frage richtiger Auslegung der Schriftstelle, wovon der strenge Chorherr schließlich auch gesprochen hatte. Aber Tatsache war und blieb dennoch, daß unzählige Menschen im Namen des Herrn getötet wurden.
    Der Gerechte wird seine Hände waschen im Blute des Sünders.
    Die Worte gingen Peter nicht aus dem Sinn und plötzlich sah er in einem Trugbild die Isar vor sich, wie sich ihre Fluten durch Ströme von Blut in giftiges Scharlachrot färbten und wie dahintreibende Äste zu verstümmelten Leibern und schreienden Verdammten wurden. Er schüttelte sich. War der Mörder ein solcher
    »Gerechter«, oder einer, der von sich zumindest glaubte es zu sein?
    Peter versuchte, sich die Texte in Erinnerung zu rufen und sie mit den Morden in Verbindung zu bringen. Beim Schuster war es am leichtesten:… im Werk seiner eigenen Hände verstrickte sich der Frevler. Ein Hinweis darauf, daß er den Leonhart gemordet hatte. Ihre Augen mögen dunkel werden, daß sie nicht sehen. Wollte der Mörder damit andeuten, daß Leonhart etwas Unrechtes zu Gesicht bekommen hatte? Gott wird ihre Zähne in ihrem Munde zerschmettern … Peitinger war als Großmaul bekannt gewesen. Hatte er sich in den Augen des Mörders versündigt durch unrechte Reden und falsches Zeugnis?
    Seltsam, dachte Peter: Hände, Augen, Mund – es war, als wollte der Unbekannte die menschlichen Sinne anklagen oder vielmehr Verfehlungen durch sie. Fünf war ihre Zahl. Also doch! Bedeutete dies, daß noch ein weiterer Mord geschehen würde und er sich getäuscht hatte?
    Und die Puppe! Ihre Augen waren durchstochen, aber dann… Nein, es

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