Der Wachsmann
verließen, hatte sich der Himmel aufgehellt, und die Sonne blitzte zwischen den Wolken hindurch. So war es schon weit angenehmer, einen Gang zu den Gräbern anzuschließen. Plötzlich zerriß ein markerschütternder Schrei die friedvolle Morgenstimmung. Der Schreckensruf drang bis in die Sakristei hinein, wo der Pfarrer eben das Meßgewand ablegte. Noch angetan mit Albe, Stola und Manipel stürmte er nach draußen. Dort wies man ihm aufgeregt den Weg zur hinteren Mauer des Kirchhofs. Es war die Stelle, an der Leonhart ruhte und die jetzt von Schaulustigen, die lautes Geheul und Wimmern ausstießen, dicht umstanden war. Der Pfarrer bahnte sich entschlossen und heftig den Weg, denn dies war schließlich sein Reich, und schon sah er das Entsetzliche. Auf dem flachen Erdhügel lag die Gestalt des Schusters hingebreitet, dürr wie der Tod und ebenso reglos. Seine Arme aber waren in grotesker Weise nach oben gezogen und die Hände mit je einer Ahle an den Querbalken des frisch errichteten Holzkreuzes geheftet. Und wie zum Hohn prangte über seinem Haupt die Inschrift mit den prophetischen Zeilen:
Gott strafe den, der ihn gemeucheltund Biederkeit und Frommsein heuchelt. Aber da war noch eine Merkwürdigkeit, denn darunter war mit einer dritten Ahle ein Streifen Pergament ans Holz gespickt. Drauf stand zu lesen:
Der Herr tat sich kund und hielt Gericht,im Werk seiner eigenen Hände verstrickte sich der Frevler. »Das ist Teufelswerk«, stammelte der erblaßte Priester, »höllische Blasphemie. Ich muß den Bischof benachrichtigen, unverzüglich. Er muß den großen Exorzismus sprechen.«
Einige der Umstehenden, die durch das halblaute Lesen des Pfarrers nun erst verstanden hatten, was dort geschrieben stand, machten sich auf ihre Weise einen Reim darauf, rannten aus dem Kirchhof, um die Neuigkeit auszuposaunen und riefen: »Ein Wunder, halleluja! Der Herr hielt Gericht. Ein Wunder! Der Schuster war’s, die Bestie. Gott hat ihn heimgesucht und gestraft!«
Der überrumpelte Pfaffe rief ihnen noch nach: »Ihr Narren, das ist ein Werk des Teufels! Haltet das Maul und betet!« Es war vergebens, und so hatte er nur mehr den Bischof im Sinn, während weltlichere Geister auf die Idee kamen, man sollte den Richter verständigen. So hatte sich nach den friedvollen Tagen der Heiligen Jungfrau das Grauen wieder in die Stadt geschlichen.
Konrad Diener stand schon am Grab und hatte dort die Gaffer von seinen Knechten ein wenig zurückdrängen lassen, als Peter und Paul eintrafen. Die Leiche war noch unberührt, denn er wollte nicht vorgreifen, wo er Peter nun schon als eine Art Partner bei der Mördersuche akzeptiert hatte. Aber er wirkte betont kurz angebunden und drängte, noch ehe die beiden Pfleger den Toten richtig besehen hatten: »Und?«
»Ich würde sagen: zuerst erwürgt und dann wie ein Kapaun als festliche Überraschung angerichtet«, bemerkte Paul trocken.
Der Richter grunzte mißbilligend und wandte sich an Peter: »Und sonst?«
»Hm, ich stimme Paul zu «antwortete Peter nachdenklich, »wobei erst der Bader noch die Leiche genauestens untersuchen müßte. Aber wichtiger erscheint mir fast der Zeitpunkt des Mordes. «
»Er wurde während der Messe gekreuzigt«, rief einer der Nächststehenden, die jedes Wort zu erhaschen suchten.
»Jawohl, wie es dem Schächer gebührt! Der Herr hat ein Zeichen gesetzt, ein Wunder!« kreischte eine zahnlose Alte.
»Woher weißt du, daß es während der Messe war?« fragte Peter nach und ging auf den Mann zu.
»Aber das ist doch klar«, gab dieser selbstbewußt Auskunft. »Es hätte ihn sonst vorher schon einer gesehen.«
»Warst du am Grab heute morgen?«
»N-nein, ich nicht.«
»Hat jemand anderer vor der Messe dieses Grab besucht oder beobachtet?« fragte Peter laut in die Runde.
»Nein… Wozu?… Das ist doch unwichtig… Der Herr hat sich kundgetan!«
»Diese Tölpel«, schimpfte der Richter vor sich hin. »Wir sollten die Sache nicht hier besprechen. Folgt mir ins Rechtshaus!« Er ließ zwei Knechte zur Bewachung zurück, schickte einen nach dem Bader und wandte sich zum Gehen.
Peter zog erst noch die dritte Ahle aus dem Holz und nahm den Pergamentstreifen an sich. Dann bückte er sich, hob die Leiche etwas an und befühlte das Erdreich darunter sowie die Kleidung des Toten, ehe er Paul und dem Richter nachfolgte.
Kaum hatten sie den Amtsraum Konrad Dieners betreten, als dieser, unruhig hin-und herlaufend, nicht mehr an sich hielt: »Ich gebe zu, ich bin
Weitere Kostenlose Bücher