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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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aufgetragen war. Einer von ihnen gestand kleinlaut, daß er gedacht habe, dies gelte nur innerhalb der Stadt und als der Rabenecker ausgefahren sei, habe er angenommen, sein Auftrag sei damit beendet. Er habe aber den Wächter ausdrücklich angewiesen, bei der Rückkehr des Kaufmanns unverzüglich Bescheid zu sagen.
    »Wann war das?« fragte der Richter äußerst ungehalten.
    »Gestern im Morgengrauen«, war die zögerliche Antwort.
    »Wie? Gestern im Morgengrauen…?«, wiederholte Diener ungläubig staunend. Der Richter tobte, und Peter konnte es ihm nicht einmal verdenken.
    Obwohl es schon fast dunkel war, ließ Konrad Diener unverzüglich noch die zuständige Torwache herbeiholen, die beflissen berichtete, daß der Kaufmann drei Faß Kalk nach Erding karren wollte.
    »Ihr wißt, daß die Ausfuhr von Kalk bei Strafe verboten ist«, herrschte Diener mit Zornesröte den Wächter an.
    »Ja, Herr.«
    »Dann habt Ihr Euch doch sicher die Genehmigung zeigen lassen, wie?«
    Der Richter stand drohend, die Arme in die Seiten gestemmt, vor dem eingeschüchterten Wachmann, und obwohl ihn dieser um Haupteslänge überragte, kam die Antwort fast piepsend: »N-nein, Herr!«
    »Hörte ich recht? Ihr sagtet: Nein?«
    »Nein, oder ja, Herr. Es war so, gnädiger Herr: Der Kaufmann sagte, der Graf zu Ebersberg habe ein halbes Mutt Kalk bestellt, um Ausbesserungen an der Burg vor dem Herannahen des Feindes abschließen zu können. Der Rat habe die Ausfuhr genehmigt, und da sah ich keinen Grund…«
    »Aber Ihr habt wenigstens die Fässer überprüft«, unterbrach ihn Konrad Diener barsch, »da auf ein halbes Mutt bekanntlich nur zweieinhalb Fässer gehen.«
    »Er ist Ratsherr«, antwortete der Wächter fast flehend, mit Achselzucken und der Miene eines armen Sünders.
    »Natürlich, natürlich, er ist Ratsherr«, bestätigte der Richter mit hohntriefender Stimme, und dann brüllte er Knechte und Wächter nieder und bedachte sie mit Schimpfworten, daß sogar Paul beinahe errötete, und Peter befürchtete, die Ratsglocke könnte sich losreißen und herabstürzen.
    Schließlich warf der Richter die nichtsnutzige Bande hinaus und klagte den Pflegern gegenüber resigniert: »Es ist ein wahres Kreuz mit diesen Kerlen. Der Glaube an die Obrigkeit ist zwar ein Segen und gottgewollt und unerläßlich, aber berechtigt er einen dazu, des Herren Schöpfung als Einfaltspinsel zu durchwandern? Manchmal wünschte ich, sie würden für drei Pfennige Verstand einsetzen, und auch von sich aus einmal das Richtige tun, selbst wenn es ungewöhnlich ist.«
    Die beiden Freunde schauten sich lächelnd an, als ob jeder wüßte, was der andere gerade dachte. Peter erwog in Erinnerung an seine Begegnung mit den Torwächtern, daß deren Eigenmächtigkeiten Vor-und Nachteil hatten, während Paul die Gewißheit hegte, den Richter bestimmt bald wieder mit ungewöhnlichen Handlungen zu beglücken. Sie hatten jedoch beide nicht das Bedürfnis, gegenwärtig mit ihm darüber zu diskutieren und verabschiedeten sich. Konrad Diener rief ihnen hinterher, daß er sie sonntags um die vierte Stunde zu sprechen wünsche.
    Auf dem Weg zur Agnes fragte Paul: »Glaubst du, daß es der Rabenecker war?«
    »Er war zumindest in der Nähe. Es ist schwer zu sagen. Mehr Sorgen macht mir fast, daß dieser Hund anscheinend wieder das üble Spiel mit den Juden anzustoßen gedenkt, denn wozu sonst der Hinweis auf die davonrennenden Burschen im Kaftan?«
    »Und wenn’s wahr ist? Ich meine, sie könnten auch zufällig in der Nähe gewesen sein und dann vielleicht aus Angst…«
    »Ach, Unsinn! Jetzt fang du nicht auch noch damit an!«
    Peter beklagte sich bitter darüber, daß mit der Ermordung Gottschalks nun alles wieder offen, ja sogar verwirrender denn je sei.
    »Irgendwo in dieser Stadt rennt ein wahnwitziger Mörder herum, der Gefallen findet an seinen teuflischen Spielen, und keiner kann sagen, wann dieses entsetzliche Morden endlich ein Ende nimmt.«
    So dachten offenbar auch andere, und Agnes erzählte den beiden während des Abendessens von zwei Versionen, die in der Stadt bereits die Runde machten. Die einen hielten am Wunderglauben fest und waren davon überzeugt, daß diesmal der Allmächtige selbst Feuer vom Himmel hatte regnen lassen, um den Unhold auszutilgen, ganz so, wie es das Wort der Schrift verkündete. Luzidere Geister stellten sich dagegen die Frage: Wer steht als Rächer hinter dem angeblichen Rächer Gottschalk? Oder anders gefragt: Wer ist der unheimliche

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