Der Waechter
hat mich vermisst!
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder besonnen hatte und von vorne mit ihrem Entzugsprogramm begann. Diesmal musste sie konsequenter sein.
Der Frühling kam und Jennys Laune hob sich. Endlich konnte sie morgens mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Und da sie somit unabhängig vom Busfahrplan war, kam sie selten vor der mütterlichen Sperrstunde nach Hause. Mittwochs wurde es meist sieben, da sie von fünf bis sechs Handballtraining hatte. Die Nachmittage verbrachte sie bei Schulfreundinnen oder Sportkameradinnen. Ihr Migräneproblem hatte sich weiter verstärkt. Die Tabletten halfen zwar gegen die Kopfschmerzen, aber das verschleierte Sehen irritierte sie immer mehr. Besonders während eines Handballspiels. Bei den schnellen Bewegungen konnte sie kaum ausmachen, wo der Schleier anfing und wo er endete, sodass sie alles verschwommen sah. Es war Mai, bis sie dahinterkam, wie sie die Wahrnehmung beeinflussen konnte. Es war anstrengend und bedurfte einiger Konzentration, aber sie schaffte es, ihre Augen zu fokussieren. Sie sah dann zwar den Schleier um die Person, um die er am stärksten dampfte , aber er breitete sich nicht mehr auf das ganze Umfeld aus. Nun da sie das eine Problem gelöst hatte, kamen neue Probleme hinzu: Jenny litt unter Hitzewallungen und fühlte sich als stünden die Hundstage vor der Tür, obwohl es gerade mal Mai war.
« Du hast bestimmt eine Allergie. So rot und heiß, wie deine Handflächen sind, hast du irgendwas angefasst, auf das du allergisch reagierst », meinte ihre Mutter.
Doch Jenny konnte keinen Zusammenhang herstellen, zwischen Dingen, die sie berührt hatte und dem Auftreten der roten Hitze ihrer Hände. Der zeitliche Verlauf war vollkommen uneinheitlich. Hinzu kam, dass Jenny in letzter Zeit so aufgedreht war, dass sie nachts nicht schlafen konnte. Und wenn sie doch einmal einschlief, träumte sie heftig. Immer wieder kehrte der Traum zurück, in dem sie Angst um ihr Leben und das ihres Kindes hatte. Selbst tagsüber quälte sie die drückende Atmosphäre, wenn sie sich an den Traum erinnerte.
« Hey Jenny, ich bin am Samstag auf Ronalds Party eingeladen. Hast du Lust? » Nina biss gut gelaunt in einen Apfel. Im Gegensatz zu Jenny schaffte sie es, immer auf ihre Figur zu achten.
Und wie ich Lust hab!
« Klar! Allerdings lässt mich meine Mutter nur weg, wenn ich weiß, wie ich wieder nach Hause komme. Wenn sie mitbekommt, dass ich manchmal trampe, bringt sie mich um. » « Kein Problem, mein Vater fährt uns. Wir holen dich ab und bringen dich wieder heim. »
« Nein, das geht nicht, das ist doch voll der Umweg. Ihr müsst drei Ortschaften zurückfahren, um mich abzuholen. »
« Ach was, das macht ihm nichts aus. Und jetzt halt die Klappe! » Nina grinste verschwörerisch.
« Okay, dann komm ich mit. » Jenny freute sich riesig.
Es ist dunkel und kühl. Jenny ist dick eingepackt und tritt in die Pedale. In den Büschen rechts von ihr raschelt es. Links fährt plötzlich der Wind in den Klee und bringt ihn in Bewegung. Automatisch wird sie schneller. Sie fährt auf dem Fahrradweg in Richtung Hütteberg. Weit vor sich sieht sie die ersten Straßenlaternen des kleinen Dorfes. Nur die Büsche trennen sie von der kaum befahrenen Landstraße. Sie fühlt sich beobachtet und verfolgt. Angst kriecht in ihr hoch. Irgendetwas geht hier vor. Nervös dreht sie sich um. Doch da ist nichts. Das Licht des Vorderrads flackert und bringt gerade mal so den Weg zum Vorschein. Plötzlich spürt Jenny einen heftigen Ruck. Jemand zieht sie am Gepäckträger nach hinten. Verzweifelt versucht sie dagegen anzustrampeln, dreht sich um, die Hand zur Faust geballt, bereit zuzuschlagen. Doch da ist niemand. Es müssen unsichtbare Kräfte sein, die sie zurückhalten. Und auf einmal ist es um sie schmerzhaft hell. Ein riesiger Lichtkegel, durchzogen mit grauen und schwarzen Streifen, flammt vor ihr auf und rast direkt auf sie zu. Blitzartig schießt es aus Jenny heraus. Sie kann nicht sagen, was es ist, aber es ist selbst eine Art Blitz. Ihr Inneres hat es vor Schreck ausgestoßen. Es verbreitert sich nach vorn und legt sich wie ein Schutzschild vor sie. Doch sie hat zu spät reagiert. Der ihr entgegen geschleuderte Lichtstrom knallt auf ihr Schild und schleudert sie im meterhohen Bogen aus dem Sattel.
Jenny schnalzte aus dem Bett. Es war das erste Mal, dass sie froh darüber war, vom Wecker geweckt worden zu sein.
Was war das Schreckliches?
Sie stöhnte, ihr Herz raste
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