Der Wächter
bizarre Vorstellung, so gut es ging, aus seinem Bewusstsein.
38
Während er durch den langen Nordflur eilte, warf Fric mehr als einmal einen ängstlichen Blick über die Schulter. Irgendwie hatte er immer schon vermutet, dass in den einsamen Ecken des riesigen Hauses Gespenster lauerten. In dieser Nacht war er sich ihrer Gegenwart fast sicher.
Als er an dem vergoldeten Spiegel, der über einem steinalten Tischchen hing, vorüberkam, glaubte er, im von der Zeit verfärbten Glas gleich zwei Gestalten zu sehen: sich selbst, aber auch noch jemand anders, der größer und dunkler war als er, jemand, der ihm auf dem Fuße folgte.
Auf einem Wandteppich, der wahrscheinlich aus der letzten Eiszeit stammte, schienen bedrohlich aussehende Reiter auf dunklen Rossen den Kopf zu drehen, um ihn zu beobachten. Aus den Augenwinkeln meinte Fric zu sehen, wie die Pferde mit wilden Augen und aufgeblähten Nüstern durch die zweidimensionalen Felder und Wälder galoppierten, als wollten sie aus ihrer gewebten Welt in den Flur des Palazzo Rospo ausbrechen.
In seinem derzeitigen Gemütszustands war Fric bestimmt nicht dazu geeignet, auf einem Friedhof, in einem Bestattungsinstitut, einem Leichenschauhaus oder einem Kühlhaus zu arbeiten, in dem massenweise tote Leute eingefroren wurden, weil man davon ausging, sie eines Tages auftauen und ins Leben zurückrufen zu können.
In einem seiner Filme hatte der Schattenpapa einmal Sherlock Holmes gespielt. Laut Drehbuch hatte dieser sich als erster Mensch der Welt nach seinem Tod einfrieren lassen. Im Jahre 2225 wurde er wiederbelebt, weil die utopische Gesellschaft seine Hilfe brauchte, um den ersten Mord seit hundert Jahren aufzuklären.
Hätte man entweder die bösartigen Roboter, die bösartigen Aliens oder die bösartigen Mumien weggelassen, wäre es wohl ein besserer Film geworden. Manchmal konnte ein Drehbuch auch zu phantasievoll sein.
In diesem Augenblick hatte Fric jedoch keinerlei Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass es im Palazzo Rospo von Gespenstern, Robotern, Aliens, Mumien und irgendwelchen namenlosen Dingern wimmelte, die schlimmer waren als alles andere, besonders hier im zweiten Stock, wo er allein war. Nicht ungestört allein, sondern allein in dem Sinne, dass er das einzige menschliche Lebewesen weit und breit war.
Das Schlafzimmer seines Vaters und die damit verbundene Zimmerflucht befanden sich ebenfalls auf dieser Etage, im Westflügel und an einem Teil des Nordflurs. Wenn der Schattenpapa zugegen war, dann hatte Fric hier auf seiner hohen Warte Gesellschaft, aber die meisten Nächte verbrachte er allein im zweiten Stock.
Wie jetzt.
An der Kreuzung des Nord- und des Ostflurs hielt er inne, blieb so reglos stehen wie eine Leiche in der Tiefkühltruhe und lauschte den Geräuschen des Hauses.
Das Prasseln des Regens hörte er mehr in seiner Vorstellung als in den Ohren. Das Dach war aus Schiefer, gut isoliert und hoch über dem hohen Flur.
Das schwache, unbeständige Rauschen des Winterwinds war nur wie eine Erinnerung aus einer anderen Zeit. Die Nacht war fast windstill.
Neben Frics Suite gingen noch andere Räume vom Ostflur ab. Selten genutzte Gästezimmer. Eine Kammer für Bettwäsche. Ein Raum mit geheimnisvollen elektrischen Geräten, die Fric an Frankensteins Labor erinnerten. Außerdem gab es ein kleines, opulent möbliertes und sauber geputztes Wohnzimmer, in dem sich nie irgendjemand niederließ.
Am Ende des Flurs führte eine Tür zu einer Hintertreppe, über die man vier Stockwerke weit bis zur unteren Garagenebene gelangen konnte. Auch am Ende des Westflurs führte eine Treppe in den Bauch des Palazzo Rospo hinab. Natürlich war keine davon so imposant wie die Haupttreppe, deren Absätze von Kristalllüstern beleuchtet wurden.
Die Schauspielerin Cassandra Limone (Geburtsname Sandy Leaky), die fünf Monate lang mit Frics Vater zusammengelebt hatte, war manchmal selbst in seiner Abwesenheit im Haus geblieben. Im Rahmen ihres Fitnesstrainings war sie täglich fünfzehnmal jede Treppe hinauf- und hinabgehetzt. Zwar hatte der gut ausgestattete Fitnessraum im ersten Stock neben zahlreichen anderen Maschinen auch einen StairMaster zu bieten, aber Cassandra war der Meinung gewesen, die »authentische« Treppe sei weniger langweilig als ein Surrogat und habe eine natürlichere Wirkung auf ihre Bein- und Pomuskeln.
In Schweiß gebadet, ächzend, blinzelnd, Grimassen schneidend und fluchend wie das besessene Mädchen in dem Film Der Exorzist hatte sie
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