Der Wächter
Umwegen zu operieren. Ich kann …«
»… ermutigen, inspirieren, erschrecken, verleiten, raten«, zitierte Fric die Worte des Mysteriösen Anrufers, die bei dessen erstem Anruf im Weinkeller gefallen waren.
»Du hast ein gutes Gedächtnis. Ich weiß, was kommt, aber ich darf das Geschehen nur durch Methoden beeinflussen, die listig …«
»… gerissen und verführerisch sind«, beendete Fric den Satz.
»Daher darf ich nicht direkt eingreifen, wenn Moloch den Weg zu seiner Verdammnis beschreitet. Genauso wenig darf ich eingreifen, wenn ein tapferer Polizist sich opfern will, um jemand anderen zu retten, und dadurch für immer ins Licht gelangt.«
»Ich glaube, das verstehe ich. Sie sind wie ein Regisseur, dem man nicht erlaubt, die Endfassung seines Films selber herzustellen.«
»Ich bin nicht mal ein Regisseur. Stell dir einfach vor, dass ich irgendein Studioangestellter bin, der Vorschläge für Änderungen am Drehbuch macht.«
»So Vorschläge, bei denen die Drehbuchautoren total ausflippen und zur Flasche greifen. Ich langweile mich immer zu Tode, wenn die stundenlang darüber quasseln, als ob ich mich für so was interessieren würde.«
»Der Unterschied«, sagte der vorgebliche Engel, »liegt darin, dass meine Vorschläge immer gut gemeint sind – und sich auf eine Vision der Zukunft stützen, die allzu leicht wahr werden könnte.«
Fric dachte einen Augenblick über das Gesagte nach, während er den Schreibtischstuhl hervorzog und sich setzte. »Puh!«, sagte er dann. »Schutzengel zu sein ist bestimmt mächtig frustrierend.«
»Das kannst du mir glauben. Du hingegen bestimmst, wie die Endfassung deines Lebens aussieht. Das nennt man freien Willen. Den hast du; den hat jeder hier. Handeln kann ich für dich nämlich nicht. Dazu bist du da … um Entscheidungen zu treffen zwischen richtig und falsch, um klug zu sein oder nicht, um mutig zu sein oder nicht.«
»Ich kann’s irgendwie versuchen.«
»Das kann ich dir nur dringend raten. Was hast du eigentlich mit dem Foto gemacht, das ich dir gegeben habe?«
»Das von der hübschen Frau mit dem netten Lächeln? Das steckt hinten in meiner Hosentasche.«
»Da nutzt es dir nicht viel.«
»Was soll ich dann damit anfangen?«
»Denk nach. Gebrauch deinen Verstand, Aelfric! Selbst in deiner Familie ist das möglich. Denk nach. Sei klug!«
»Ich bin zu hypermäßig müde, um jetzt nachzudenken. Wer ist das denn, die Frau auf dem Bild?«
»Wie wär’s, wenn du ein bisschen Detektiv spielst? Stell ein paar Nachforschungen an!«
»Da bin ich schon dabei. Wer ist sie?«
»Hör dich um. Die Frage kann ich dir nicht beantworten.«
»Und wieso nicht?«
»Weil ich mich an die bekannten Regeln halten muss, die den Job als Schutzengel zugegebenermaßen manchmal zu einer extrem nervigen Sache machen.«
»Na gut, kapiert. Bin ich heute Nacht eigentlich schon in Gefahr, oder kann ich bis morgen Früh warten, um ein spezielles, geheimes Versteck zu suchen?«
»Wenn du gleich morgens damit anfängst, reicht das«, sagte der Schutzengel. »Aber verlier bloß keine Zeit mehr. Sei bereit, Aelfric, sei bereit!«
»Okay. Ach, übrigens, es tut mir Leid, wie ich Sie genannt hab.«
»Du meinst im Weinkeller, als du gefragt hast, ob ich so was wie ein Anwalt bin?«
»Genau.«
»Man hat mir schon schlimmere Sachen an den Kopf geworfen.«
»Ehrlich?«
»Viel schlimmere.«
»Und es tut mir Leid, dass ich versucht hab, Ihnen nachzuschnüffeln.«
»Was willst du damit sagen?«
»’nem Engel gegenüber ist so was bestimmt ziemlich fies. Ich meine, ihn einfach zurückzurufen.«
Der Mysteriöse Anrufer schwieg.
Sein Schweigen hatte etwas Undefinierbares an sich, etwas, was es von jedem Schweigen unterschied, das Fric je mitbekommen hatte.
Zum einen war es ein vollkommenes Schweigen, eines, das nicht nur alles Knistern und Rauschen in der Telefonleitung aufsaugte, sondern auch das kleinste Geräusch in der Bibliothek, bis es Fric so vorkam, als wäre er stocktaub geworden.
Zum anderen hörte das Schweigen sich unendlich tief an, so als befände der Schutzengel sich am Grund eines Meeresgrabens. Tief und überaus kalt .
Fric schauderte, aber er hörte weder seine Zähne klappern, noch spürte er seinen Leib beben. Auch sein Atmen hörte er nicht, obwohl er fühlen konnte, wie ihm die Luft aus dem Mund strömte, heiß genug, um ihm die Zähne zu trocknen.
Ein vollkommenes, tiefes, kaltes Schweigen, ja, aber es besaß auch noch eine andere, eine seltsamere
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