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Der Wächter

Der Wächter

Titel: Der Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Treppenhauses widerhallte, kam Ethan ein alter Film in den Sinn, in dem ein paar junge Burschen mit markigen Sprüchen ihre Angst kaschierten, während sie um Mitternacht über den Kirchhof gingen.

56
    Auf einem Schleifstein aus Selbstverleugnung und mit dem Eifer wahrer Besessenheit hatte Brittina Dowd ihren Körper zu einer langen, dünnen Klinge geschliffen. Sah man sie gehen, so erwartete man fast, dass die scherenartige Bewegung der Glieder ihre Kleider in Fetzen schnitt.
    Die Hüften waren so dürr, dass sie zerbrechlich wie Vogelknochen wirkten. Die Beine ähnelten denen eines Flamingos. Die Arme besaßen kaum mehr Substanz als der Federn beraubte Flügel. Anscheinend war Brittina wild entschlossen, sich so weit zu reduzieren, dass ein kräftiger Windstoß sie ergreifen und ins Reich von Lerche und Schwalbe davontragen konnte.
    Eigentlich war sie keine einzelne Klinge, sondern ein ganzes Schweizer Messer, bei dem man alle Klingen und Werkzeuge aufgeklappt hatte.
    Vielleicht hätte Corky Laputa sie geliebt, wenn sie nicht auch noch hässlich gewesen wäre.
    Obwohl er Brittina nicht liebte, gab er sich mit ihr der körperlichen Liebe hin. Das Durcheinander, das sie aus ihrem klapperdürren Leib gemacht hatte, erregte ihn. Es war, als kopulierte man mit dem Tod.
    Mit ihren sechsundzwanzig Jahren hatte sie schon alles dafür getan, möglichst früh Osteoporose zu bekommen. Möglicherweise sehnte sie sich danach, bei einem zufälligen Sturz so vollständig in ihre Einzelteile zu zersplittern wie eine Kristallvase, die vom Tisch auf den Steinboden fiel.
    Beim Liebesakt fürchtete Corky immer, von ihren Knien oder Ellbogen durchbohrt zu werden oder zu hören, wie Brittina unter ihm zerbrach.
    »Mach’s mir«, stöhnte sie, »mach’s mir!«, was aber weniger wie eine Einladung zum Sex klang als wie eine Bitte um Beihilfe zum Selbstmord.
    Ihr Bett war schmal und nur für eine Schläferin geeignet, die sich nicht herumwälzte, sondern so reglos wie die Bewohnerin eines Sargs dalag. Viel zu schmal jedenfalls für die wilde Brunft, zu der die beiden fähig waren.
    Sie hatte das Zimmer mit einem Einzelbett möbliert, weil sie nie einen Liebhaber gehabt und erwartet hatte, auf ewig Jungfrau zu bleiben. Corky hatte ihr Herz so leicht gewonnen, als hätte er einen Kolibri in der Faust zermalmt.
    Das schmale Bett stand in der oberen Etage eines schmalen, zweistöckigen Hauses, das im viktorianischen Stil gehalten war. Das Grundstück war zwar tief, aber viel zu schmal, um nach den gegenwärtig geltenden Vorschriften mit einem Wohnhaus bebaut zu werden.
    Vor fast sechzig Jahren, kurz nach dem Krieg, hatte ein exzentrischer Hundeliebhaber dieses merkwürdige Gebäude entworfen und erbaut. Er hatte darin mit zwei Windhunden und zwei Whippets gelebt.
    Irgendwann war er von einem Schlaganfall gelähmt worden. Nach mehreren Tagen, an denen ihr Herrchen sie nicht gefüttert hatte, hatten die ausgehungerten Hunde ihn aufgefressen.
    Das war nun vierzig Jahre her. Die anschließende Geschichte des Hauses war meist so schillernd und gelegentlich fast so grausig gewesen wie das Leben und der grässliche Tod des Bauherrn.
    Auf die Schwingung des Hauses hatte Brittina wie ein Whippet reagiert, der beim hochfrequenten Ton einer Hundepfeife die Ohren aufstellte. Sie hatte es mit einem Teil des Geldes erworben, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.
    Brittina war Doktorandin an derselben Universität, an der mehrere Generationen der Familie Laputa ihr Brot verdient hatten beziehungsweise noch verdienten. In eineinhalb Jahren würde sie in amerikanischer Literatur, die sie weitgehend verabscheute, promovieren.
    Obwohl sie nicht ihr gesamtes Erbe für das Haus verschleudert, sondern den Rest investiert hatte, musste sie den Ertrag mit anderen Einkünften ergänzen. Um sich immer genügend Schlankheitspulver mit Schokogeschmack und Brechmittel wie Ipekakuanha-Sirup leisten zu können, hatte sie einen Job als wissenschaftliche Hilfskraft angenommen.
    Vor sechs Monaten hatte sich dann Channing Manheims persönliche Assistentin an den Leiter des Anglistischen Instituts gewandt, um wegen eines neuen Hauslehrers für den Sohn des berühmten Schauspielers anzufragen. Nur hochkarätige Akademiker waren erwünscht.
    Der Institutsleiter hatte Corky konsultiert, der als einer seiner Stellvertreter amtierte, und jener wiederum hatte Ms. Dowd empfohlen.
    Corky war dabei bereits klar gewesen, dass man sie einstellen würde, weil der idiotische

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