Der Wächter
»Soll das etwa heißen, Sie haben Whistler den falschen Leuten übergeben?«
Toledano schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nie im Leben. Das hab ich vierzehn Jahre lang nicht gemacht, da werd ich heute auch nicht damit anfangen.«
Durch eine breite Tür konnten die Leichen auf Rolltragen vom Gartenzimmer direkt in die Zufahrt für die Krankenwagen geschoben werden. Die beiden Riegel, mit denen die Tür gesichert werden konnte, waren offen.
»Ich hab sie abgeschlossen«, beteuerte Toledano. »Sie sind immer abgeschlossen, immer , außer wenn jemand abtransportiert wird, und dann bin ich immer hier drin, um die Sache zu beaufsichtigen.«
»Wer klaut denn eine Leiche?«, fragte der Mann mit der Tolle.
»Selbst wenn irgendein Spinner eine klauen wollte, würde er es nicht schaffen«, sagte Vin Toledano und zog die Tür zur Zufahrt auf, um zu zeigen, dass sie an der Außenseite keine Schlüssellöcher aufwies. »Zwei Drehriegel ohne Außenschloss. Dafür gibt’s keine Schlüssel. Man kann die Tür nicht entriegeln, wenn man nicht schon hier drin ist und an die Räder der Riegel kommt.«
Die Stimme des Leichenwärters klang gequält. Offenbar sah Toledano seinen Job durch die Finger rinnen wie Blut, das von der Schwerkraft durch den Ablauf eines geneigten Obduktionstischs gezogen wurde.
»Tja«, sagte José Ramirez, »vielleicht war er gar nicht tot und ist einfach rausmarschiert.«
»Der war toter als tot«, sagte Toledano. »Absolut mausetot.«
Mit einem Zucken der herabhängenden Schultern und einem Koalalächeln sagte José: »Jeder macht mal einen Fehler.«
»Hier in diesem Krankenhaus nicht«, entgegnete der Leichenwärter. »Jedenfalls nicht, seit vor fünfzehn Jahren mal eine alte Dame, die hochoffiziell für tot erklärt worden war, fast eine Stunde in der Kühlkammer lag, bis sie sich aufgesetzt und lauthals um Hilfe geschrien hat.«
»Ach, daran kann ich mich auch erinnern«, sagte der Mann mit der Tolle. »Irgend ’ne Nonne hat deshalb einen Herzanfall bekommen.«
»Den Herzanfall hat der Typ bekommen, der vor mir hier unten gearbeitet hat, und schuld daran war die Nonne, die ihn zur Minna gemacht hat.«
Ethan bückte sich, um den weißen Plastikbeutel unter der Trage hervorzuziehen, auf der Dunnys Leiche gelegen hatte. An einer der Zugkordeln des Beutels hing ein Etikett mit dem Namen DUNCAN EUGENE WHISTLER, Dunnys Geburtsdatum und seiner Sozialversicherungsnummer.
»Da waren die Sachen drin, die er bei der Aufnahme ins Krankenhaus getragen hat«, sagte Toledano, der vor aufkeimender Panik bereits keuchend atmete.
Der Beutel war leer. Ethan legte ihn auf die Trage. »Sagen Sie mal, seit diese alte Dame vor fünfzehn Jahren wieder aufgewacht ist, überprüfen Sie da eigentlich, ob die Ärzte auch keinen Fehler gemacht haben?«
»Doppelt und dreifach«, sagte Toledano. »Sobald eine Leiche hier ankommt, nehme ich mein Stethoskop und höre sie nach irgendwelchen Anzeichen auf Herz- oder Lungentätigkeit ab. Am Zwerchfell lausche ich auf hohe Töne, am Brustkorb auf tiefe.« Während er das sagte, nickte er ständig, als ginge er in der Erinnerung eine Liste sämtlicher Untersuchungen durch, die er nach dem Eintreffen von Dunnys Leiche vorgenommen hatte. »Mit einem Spiegel prüfe ich den Atem. Dann messe ich die innere Körpertemperatur, und das wiederhole ich nach einer halben Stunde und noch mal nach einer Stunde, um festzustellen, ob sie so absinkt, wie es sich für ’ne echte Leiche gehört.«
Der Mann mit der Tolle wirkte amüsiert. »Die innere Körpertemperatur? Soll das etwa heißen, Sie beschäftigen sich hier damit, toten Leuten ein Thermometer in den Hintern zu stecken?«
José fand das offenbar gar nicht lustig. »Nicht so pietätlos«, sagte er und bekreuzigte sich.
Ethans Handflächen waren feucht. Er wischte sie an seinem Hemd ab. »Na schön, wenn niemand hier reinkommen konnte, um ihn mitzunehmen, und wenn er tatsächlich tot war – wo ist er jetzt?«
»Wahrscheinlich hat eine der Schwestern Ihnen einen Streich gespielt«, sagte der Mann mit der Tolle zu Toledano. »Diese Nonnen sind echte Spaßvögel.«
Kalte Luft, schneeweiße Kacheln, Edelstahlschubladen, die wie Eis glänzten: Nichts davon bot eine Erklärung für das tiefe Frösteln, das Ethan überkam.
Hatte der feine Duft des Todes bereits seine Kleidung durchdrungen?
Früher hatten solche Orte Ethan nie aus der Ruhe gebracht. Heute war er völlig durcheinander.
In den Krankenhausakten waren unter ANGEHÖRIGE
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