Der Wächter
Zahl irgendeinen Sinn?«
»Keine Ahnung.«
»Waren die Viecher am Leben, als du sie bekommen hast?«, fragte Hazard.
»Mausetot. Ob sie am Leben waren, als man sie verschickt hat, weiß ich nicht, aber sie haben so ausgesehen, als wären sie schon eine Weile tot gewesen. Die Panzer waren zwar unversehrt, aber die zarteren Körperteile waren ausgetrocknet.«
Auf dem zweiten Foto ragte eine Sammlung spiralförmiger, hellbrauner Schneckenhäuser aus einem Häuflein grauem Dreck, der aus einer Schachtel auf ein Blatt Wachspapier gekippt worden war.
»Zehn tote Schnecken«, sagte Ethan. »Na ja, eigentlich waren zwei noch halb am Leben, als ich die Schachtel aufgemacht habe.«
»War wohl ein Duft, den man in der Parfümerie vergeblich sucht«, bemerkte Hazard und schob sich eine Gabel Tajine mit Meeresfrüchten in den Mund.
Das dritte Foto zeigte wieder ein kleines, durchsichtiges Schraubglas. Das Etikett hatte man zwar entfernt, aber am Deckel war erkennbar, dass sich im Glas einmal Essiggurken befunden hatten.
Weil die Aufnahme nicht scharf genug war, um den trüben Inhalt des Glases erkennen zu können, sagte Ethan: »Im Glas befand sich Formaldehyd, und darin schwammen zehn durchscheinende, blassrosa gefärbte Gewebestücke. Röhrenähnliche, schwer zu beschreibende Objekte, die wie winzige, exotische Quallen ausgesehen haben.«
»Hast du sie in ein Labor gebracht?«
»Natürlich. Und als man mir die Analyse übergeben hat, hat man mich ganz schön schräg angeschaut. Bei den Dingern im Glas hat es sich um Vorhäute gehandelt.«
Hazards Kinnlade hielt mitten im Kauen inne, als hätte sich die Tajine urplötzlich verhärtet wie ein Gebissabdruck.
»Zehn Vorhäute von erwachsenen Männern, nicht von Babys«, ergänzte Ethan.
Hazard kaute nun nicht mehr genussvoll, sondern eher mechanisch weiter. »Puh«, sagte er, nachdem er mit einer Grimasse geschluckt hatte. »Lassen sich viele erwachsene Männer beschneiden?«
Ethan schüttelte den Kopf. »Ich hab noch keinen Schlange dafür stehen sehen«, sagte er.
9
Im Regen war Corky Laputa in seinem Element. Er trug einen langen, gelb glänzenden Regenmantel und dazu einen gleichfarbigen Südwester mit schlaffer Krempe. Er leuchtete wie ein Löwenzahn.
Der Regenmantel hatte viele Innentaschen, tief und wasserdicht.
In seinen hohen, schwarzen Gummistiefeln trug Corky jeweils zwei Socken übereinander, um angenehm warme Füße zu haben.
Er gierte nach Donner.
Er lechzte nach Blitzen.
Die Unwetter im Süden Kaliforniens, denen es meist an Geräusch- und Lärmeffekten mangelte, waren zu ruhig für seinen Geschmack.
Den Wind hingegen genoss er. Zischend und heulend verlieh dieser Meister der Unordnung dem Regen Biss und versprach Chaos.
Feigenbäume und Kiefern erbebten und zitterten; Palmwedel klickten und klackten.
Lose Blätter erhoben sich zu einem wirren grünen Hexentanz wie kurzlebige Dämonen, um alsbald in die Gosse geweht zu werden.
Nach und nach würden die Blätter die Gitter der Gullys verstopfen und zur Ursache von überfluteten Straßen, stecken gebliebenen Autos, zu spät kommenden Krankenwagen und vielen kleinen, aber erfreulichen Kümmernissen werden.
An diesem vom Wind zerzausten, tropfenden Mittag spazierte Corky durch ein wunderhübsches Wohnviertel in
Studio City, um Unordnung zu säen.
Er wohnte dort nicht und hätte das auch nie wollen.
Das hier war eine Gegend, in der die arbeitende Klasse wohnte, bestenfalls auf dem Niveau des mittleren Managements. Ein solcher Ort bot kaum genügend intellektuelle Anregungen.
Er war hierher gefahren, um einen Spaziergang zu machen.
Obwohl er signalgelb wie ein Kanarienvogel leuchtete, ging er vollkommen unauffällig durch die Straßen und zog so wenig Aufmerksamkeit auf sich wie ein Gespenst, das nicht mehr war als ein Gekräusel dunstigen Ektoplasmas.
Er hatte noch keinen einzigen Fußgänger angetroffen. Durch die stillen Straßen fuhren nur wenige Autos.
Aufgrund des Wetters blieben die meisten Leute in ihrem behaglichen Zuhause.
Das herrlich hundsmiserable Wetter war Corkys bester Verbündeter.
Natürlich waren die meisten Bewohner dieser Häuser zu dieser Stunde bei der Arbeit, um sich beharrlich abzuplagen, stumpfsinnig und ohne Zweck.
Weil Ferien waren, waren die Kinder nicht zur Schule gegangen. Heute: Montag. Weihnachten: am Freitag. Zeit, das traute Heim zu schmücken.
Manche Kinder waren in der Gesellschaft von Geschwistern. Eine kleinere Anzahl befand sich unter dem Schutz
Weitere Kostenlose Bücher