Der Wächter
damit den Schädel spalten.«
»Und das Beweismittel anschließend futtern.«
Die Kellnerin kam mit Ethans Kreditkarte und dem Beleg zurück.
Während Ethan das Trinkgeld addierte und unterschrieb, schien Hazard die junge Frau kaum zu beachten. Er sah sie nicht ein einziges Mal an.
Mit Regennadeln tätowierte der stürmische Wind flüchtige Muster aufs Fenster. »Sieht kalt aus da draußen«, sagte Hazard.
Genau das hatte Ethan gerade auch gedacht.
11
In Regenmantel, Stiefeln, Jeans und demselben Wollpullover wie zuvor saß Corky Laputa hinter dem Lenkrad seines silberfarbenen BMW, gelähmt von einer Enttäuschung, die so schwer und erstickend war wie ein Pelzmantel.
Obgleich sein Hemd nicht bis oben zugeknöpft war, klemmte ihm der Zorn die Kehle ab, als hätte er seine vierzig Zentimeter Halsumfang in einen Kragen Größe achtunddreißig gezwängt.
Am liebsten wäre er nach West Hollywood gefahren, um Reynerd umzubringen.
Solchen Impulsen musste man sich natürlich widersetzen. Zwar träumte Corky davon, dass die Gesellschaft in eine völlige Gesetzlosigkeit verfiel, aus der erst eine neue Ordnung entstehen konnte, aber vorläufig waren die Gesetze gegen Mord noch in Kraft. Sie wurden immer noch angewandt.
Corky war ein Revolutionär, aber kein Märtyrer.
Ihm war klar, dass es ein Gleichgewicht zwischen radikalem Handeln und Geduld geben musste.
Er wusste, wo die Grenzen anarchischen Zorns lagen.
Um sich zu beruhigen, verzehrte er einen Schokoriegel.
Im Gegensatz zu den Behauptungen der organisierten Medizin – sowohl der von Habgier verdorbenen westlichen Spielart als auch ihrer von selbstgefälliger Spiritualität strotzenden Konkurrenz aus dem Orient – ließ raffinierter Zucker Corky nicht hyperkinetisch werden. Vielmehr beruhigte die Saccharose ihn.
Sehr alte Menschen, deren Nerven durch das Leben und dessen Enttäuschungen qualvoll empfindlich geworden waren, wussten schon lange von der besänftigenden Wirkung übermäßigen Zuckergenusses. Je weiter ihnen ihre Hoffnungen und Träume aus den Händen glitten, desto süßer wurde ihr Speisezettel: doppelte Portionen Eiskrem, gehaltvolle Kekse in gewaltigen Familienpackungen, Schokolade in jeder Form, von Pralinen über Tafeln bis hin zu Osterhasen, die man vor dem Verzehr brutal schlachten konnte, um sich auf diese Weise doppelten Genuss zu verschaffen.
Im Alter war Corkys Mutter eiskremsüchtig geworden. Eiskrem zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Abendbrot. Eiskrem in schlanken Gläsern, in riesigen Schalen, direkt aus dem Karton.
Sie hatte genügend Eiskrem verschlungen, um ein ganzes Netzwerk aus Arterien zu verstopfen, eines, das von Kalifornien bis zum Mond und zurück reichte. Eine Weile hatte Corky den Eindruck gehabt, sie wolle Selbstmord durch Cholesterin begehen.
Statt sich jedoch ein Herzversagen anzulöffeln, hatte sie mit der Zeit immer gesünder ausgesehen. Ihr Gesicht hatte geleuchtet, die Augen hatten so gestrahlt wie nie zuvor, nicht einmal in ihrer Jugend.
Die Kübel, Fässer, Tröge voll Cremolino Tiramisu, Genießerbecher Knusper-Nuss, Schlemmertraum Schoko-Vanille und zwei Dutzend weiteren Geschmacksrichtungen hatten es offenbar geschafft, die biologische Uhr der alten Dame zurückzudrehen. Der spanische Entdecker Ponce de Léon, der in der Karibik vergeblich nach der legendären Insel Bimini mit ihrem Jungbrunnen gesucht hatte, hätte sich bei dieser Nachricht wohl im Grabe umgedreht.
Corky war damals der Gedanke gekommen, dass seine Mutter mit ihrem offenbar einzigartigen Stoffwechsel ihren ganz privaten Schlüssel zur Unsterblichkeit gefunden hatte: Butterfett. Deshalb hatte er sie umgebracht.
Wäre sie bereit gewesen, ihm einen Teil ihres Geldes zu überlassen, während sie noch am Leben war, dann hätte er sie leben lassen. Habgierig war er nämlich nicht.
Allerdings hatte sie weder an Großzügigkeit noch an elterliche Verantwortung geglaubt und sich deshalb in keiner Weise um Corkys Wohlergehen und seine Bedürfnisse gekümmert. Aus diesem Grund hatte er befürchtet, sie könnte ihr Testament ändern und ihn für immer um sein Erbe prellen – einfach so, weil es ihr Spaß machte.
In ihrer beruflichen Laufbahn hatte es Corkys Mutter bis zur Professorin für Wirtschaftswissenschaft gebracht. Dabei hatte sie sich auf die ökonomischen Modelle des Marxismus und den skrupellosen Hickhack der Universitätspolitik spezialisiert.
An nichts hatte sie mehr geglaubt als an rechtschaffenen Neid und an die Kraft des
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