Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
schickt von unterwegs Briefe nach Hause und schreibt dann zu Hause ein Buch wie von unterwegs. In der Erinnerung wird das Subjekt sich selbst zum Objekt. Aber zu einem Objekt, das als Subjekt fingiert wird. Einmal um die eigene Achse gedreht und schon sieht die Welt ganz anders aus. Überall Risse und Sprünge. Dass diese Risse und Sprünge von Seume nicht kunstfertig mit Rhetorik überspielt, sondern durch narrative Nachlässigkeit noch hervorgehoben werden, verschafft diesen literarischen Diskursen über das Hin- und Herlaufen in der Welt ihre lebendige Unberechenbarkeit. Dem Autor ist die Stimmigkeit der Perspektiven gleichgültig, und so gehen wir Leser im einen Moment neben ihm auf der Landstraße und stehen im nächsten wie der Schatten der Nachwelt hinter seinem Stuhl und blicken ihm über die Schulter aufs Blatt.
Die Reportage hatte sich um 1800 noch nicht als eigenständiges marktgängiges Genre ausgebildet. Aber verpuppt in der Briefform waren ihre Besonderheiten bereits vorhanden: reflektierte Anschaulichkeit, erzählte Erfahrung, im Subjekt geraffte Wirklichkeit, vom Subjekt garantierte Wahrheit.
Insofern war Seume ein Reporter vor der Erfindung der Reportage. Selbst die heute als ›faction‹ etikettierte Methode, Fakten mit Fiktionen verständlich (und konsumierbar) zu machen, findet sich in den Briefen von seinen Reisen und in den Büchern über sie. Und wie nahezu alle großen Reporter späterer Epochen hat er mit der Ausprägung eines eigenen Stils die Stilisierung seiner selbst verbunden. Wie viele nach ihm gefiel er sich in der Rolle des reisenden Abenteurers und Wanderers in der Fremde, eingehüllt in den Mantel seiner Einsamkeit, um sich gegen die Kälte der Welt zu schützen. In der warmen Stube daheim beginnt beim Schreiben das Gespräch mit den Lesern der Zukunft. Der große polnische Reporter Ryszard Kapusćiński hat einmal notiert: »Schreiben ist ein Dialog, eine Polemik, darüber hinaus ist es die einzige Art, wie man sich über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg verständigen kann.«
Die Romanphantasie in Mein Sommer wirkt wie eine Schauergeschichte. Seume steht abends auf dem Brocken, dem alten Hexen- und Gespensterberg, als ein Meteor aufleuchtet, in eine Felsenschlucht stürzt und verlöscht. Seume sucht die Stelle und findet das zusammengerollte Manuskript des Manns im Mond. Nachdem die Phantasie ausgesponnen ist, beendet Seume den Absatz:
»Das ist der einzige Roman, den ich in meinem Leben, aber auch nur in Gedanken, geschrieben habe.«
Man könnte einwenden, so ganz stimme das auch wieder nicht. Schließlich enthalten die beiden großen Reisebücher genug Passagen, die nicht nur in Gedanken, sondern auf dem Papier geschrieben sind wie Romane. Und in manchen Romanen wiederum verschafft sich die Geschichte ihr Recht. In Mein Leben erzählt Seume, wie er als Schüler den Werther so gelesen hat,
»da alles dort der Geschichte so gleich sieht, und vielleicht meistens Geschichte ist«.
Dennoch verfliegt die Wirkung des Romans, und der jugendliche Leser kehrt zur »echt nährenden gediegenen Diät der Geschichte« zurück, womit vor allem die antiken Geschichten gemeint waren, zum Beispiel die des Plutarch, aus denen in den höheren Lehranstalten traditionsgemäß der geistige Sozialisationskern bestand. Ausgerechnet diese schulmäßige Erziehung an den klassischen Autoren mit ihren exemplarischen Lebensläufen trieb den Bauernjungen in eine Erfahrung der Welt hinein, die alles andere als klassisch war und ihn auf abenteuerlichen Wegen in einen Schriftsteller verwandelte. Und dies wiederum macht für uns nun den Lebenslauf Seumes interessant und exemplarisch.
Und nun –
Als Seume an Mein Leben schrieb, ging er dem Tod entgegen. Seume hätte gegen die Formulierung vielleicht eingewandt: Das ist bei jedem Menschen immer so, von Geburt an. Doch war in seinem Fall der Gang schon ein Lauf, und sein Leben reichte nicht, um Mein Leben zu vollenden. Im Erstdruck von 1813 lauten die letzten Worte »Und nun«, dann folgen die Fortsetzungen von Göschen und Clodius. Dieses »Und nun«, auf das von Seume nichts mehr folgt, klingt nach ›mitten aus dem Leben gerissen‹. In Wahrheit siechte Seume dahin, schrieb zwischen den geliebten Toten aus dem alten Griechenland seine Autobiographie, exzerpierte Plutarch und notierte Aphorismen, von denen er schon ahnte, dass sie apokryph bleiben würden. Privatunterricht konnte er nicht mehr erteilen, und seinem Hauswirt, der ihn schonte, blieb er die
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