Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
Vom Netzwerk:
pietistischen Begriff festhält, dem der »Vernichtung«, der vom vielen Gebrauch in den zurückliegenden Jahrzehnten empfindsamer Frömmelei ganz abgenutzt war.
    Wenige Wochen später sandte Seume Madame de Staëls Liebesroman Corinne in der deutschen Übersetzung von Dorothea Schlegel an Johanna, wieder als selbst ernannter Lehrmeister, aber diesmal wenigstens auf eigenem, nicht finanziellem, sondern literarischem Gebiet. Der Roman war mit ausgiebigen Anmerkungen Seumes verziert. Im Begleitschreiben bietet er alles an schriftstellerischen Berühmtheiten auf, was ihm möglich ist, um zu demonstrieren, wie wenig sie auf der Waagschale der Liebe bedeuten:
»So ernsthaft Sie mich kennen, weiß ich doch, dass ich über einem Blatt von Wieland vom Tische aufgesprungen bin und die Verse im Zimmer abgetanzt habe; […] Gleim war mein Freund, und Herder und Schiller und Weiße, und Wieland ist es; und Goethe ist mir nicht abhold. Das könnte meiner Eitelkeit genug sein, und ich wollte doch jeden Gedanken hingeben, womit ich die Schätzung dieser Männer gewonnen habe, wenn – wenn –  –
Schweigen soll ich, will ich, werd’ ich, Liebe;
Wenn Du zürntest, scheuchte mich ein Wort,
Als ob man mein Todesurteil schriebe,
In ein freudenleeres Leben fort.

Fort von neuem durch empörte Meere,
Wo die Woge furchtbar heulend bricht.
Schweigen will ich, wenn’s zum Tode wäre;
Aber anders werden kann ich nicht.«
    Das war auch nicht nötig. Johanna blieb Seume freundlich und freundschaftlich verbunden, obwohl er gelegentlich Gründe hatte, sich über Vernachlässigung zu beklagen. Ein Vierteljahr vor seinem Tod, nur die »letzte Ausflucht Weimar« und die Reise zur vergeblichen Kur nach Teplitz standen noch aus, beklagte er sich »ohne Scherz«, doch Kapriolen schlagend:
»Sie mögen sehen, wie Sie es mit Ihrem Gewissen ausmachen, dass Sie mich armen, kranken Teufel so lange hartherzig ohne eine freundliche Silbe haben liegen lassen. Da sind doch Mad. Göschen und die Frau Doktor Braune ein wenig großmütiger gewesen. Aber ich bin doch wohl ein recht undankbarer Geselle. Sie schreiben mir nun so gütig freundlich; und ich zanke wie ein Eisbär.«
    Dieser Brief ist von einer ganz unseumigen Gelassenheit, geschrieben schon aus Todesnähe. Deshalb greift er trotz historischer Ferne heute noch ans Herz. Das Schreiben endet mit dem – im besten, wahrsten und schönsten Sinne – frommen Wunsch:
»Der Himmel nehme Sie in seinen heiligen Schutz und erhalte mir Ihr Wohlwollen.«
    Die großmütige Frau Braune übrigens war die Ehegattin des mit Seume befreundeten, nicht weniger großmütigen Leipziger Arztes Christian Gottfried Carl Braune. Er behandelte den »armen, kranken Teufel« unentgeltlich und erhielt dafür von Seume das Manuskript der unvollendeten Autobiographie, die von Göschen und Clodius fortgeschrieben und als Mein Leben veröffentlicht wurde. In dieser Fortsetzung gibt es auch eine Passage über Seume und die Mädchen: »Seume hatte Empfänglichkeit für die Reize des schönen Geschlechts, er war mehrere Male wirklich verliebt mit der ganzen Stärke und Heftigkeit seines Gemüts. Ich würde dieses […] gar nicht erwähnen […] wenn es nicht auffallend gewesen wäre, dass die beiden letzten Gegenstände seiner Liebe« – also hat es doch nicht nur Wilhelmine und Johanna gegeben? – »reiche Mädchen waren. Er suchte ihren Reichtum nicht, aber da sie reich waren, ließ er sich hier gehen, und strebte nach einer ehelichen Verbindung mit dem Gegenstand seiner Liebe […] Gewiss haben mehrere Mädchen Eindruck auf ihn gemacht« – in den Apokryphen findet sich die Notiz »Je älter ich werde, desto schöner sind die Mädchen.« –, »aber wenn sie arm waren, so suchte er gleich Anfangs Herr über eine solche Liebe zu werden, und ihrer Macht zu entgehen.«
    Mit den armen Mädchen wollte er, mit den reichen sollte er kein Glück haben. Mit einem aus Marmor lief es besser, sogar in dichterischer Hinsicht. Hat Göttin Hebe auch ein Herz aus Stein, sie schenkt immer Ambrosia aus, ewige Mundschenkin des Glücks. Von »süßem Rausche trunken, wie in ein Meer von Seligkeit versunken«, schaute Seume im Februar 1802 in Venedig zu ihr auf. Das Gedicht auf Canovas Statue ist in seiner jubelnden Hingerissenheit eines von Seumes schönsten. Im Unterschied zu den lyrischen Liebeserklärungen, die er den wirklichen Mädchen schickte, ist die Bewunderungspoesie auf die Marmorgöttin frei vom leidenden Seume’schen Grundton.

Weitere Kostenlose Bücher