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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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Schlachtfeld entsprach die nicht enden wollende Öde auf dem Exerzierplatz. Sie tat das ihre, um die Körper der Soldaten von ihren Seelen zu trennen. Mochten sich die Seelen (oder ›Herzen‹) nur von der Einbildungskraft treiben lassen, solange die Körper von der Muskelkraft automatisch in den vorgeschriebenen Abläufen bewegt wurden. In den Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz, 1776 anonym in Leipzig veröffentlicht, ist dies Gegenstand eines Dialogs zwischen Hauptmann Pirzel und dem Feldprediger Eisenhardt.
    »Eisenhardt: Aber hindert Sie das Denken nicht zuweilen im Exerzieren?
    Pirzel: Ganz und gar nicht, das geht so mechanisch. Haben doch die anderen auch nicht die Gedanken beisammen, sondern schweben ihnen alleweile die schönen Mädgens vor den Augen.
    Eisenhardt: Das muss seltsame Bataillen geben. Ein ganzes Regiment mit verrückten Köpfen muss Wundertaten tun.
    Pirzel: Das geht alles mechanisch.«
    Ebendieses Mechanische fehlte den amerikanischen Ureinwohnern aus der Exerzierplatzperspektive der gedrillten Europäer. Als ›edle Wilde‹ schweiften sie frei umher und freuten sich des Augenblicks. Nur wenn sie zu viel Rum tranken und
»das Räuschgen sie vergessen ließ, dass sie nicht in ihren Horden und unter ihren Landsleuten waren, erlaubten sie sich oft einen Umgang öffentlich unter einander, den man bei gesitteten europäischen Nationen lieber allein und abgesondert genießt, und der freilich den ehrbaren Engländerinnen etwas zu frei und indianisch schien.«
    Durch diese Stelle von Seumes Schreiben aus America klingt nicht direkt tiefe Befriedigung, aber doch eine oberflächliche Ahnung davon. Offenbar machte es ihm Spaß, die Leser zu Hause mit dem Fremdschämen der ehrbaren Engländerinnen in Halifax zu kitzeln. Er setzt aber gleich hinzu, die Wilden hätten nach einigen Strafmaßnahmen des Gouverneurs gelernt, »auch bei ihren Lustbarkeiten sich ordentlich und unanstößig zu betragen«.
    Ansonsten ist im Unterschied zum sentimentalen Moralismus seines Gedichts Der Wilde Seumes Ton im Bericht über das Leben der Ureinwohner weder sentimental noch moralisch, sondern prosaisch, mitunter beinahe ethnographisch, jedenfalls an den Tatsachen orientiert und nicht an den Träumen, denen sich die disziplinierten Europäer angesichts des freien ›Wilden‹ hinzugeben pflegten. Diesen Projektionen widersprechen noch die lakonischen Sarkasmen, die ihm rückblickend in Mein Leben über ›die Wilden‹ herausplatzen: »Sie skalpieren sehr ehrlich nur ihre Feinde.«
    Seume hat die eigene Haut gern unter einer huronischen versteckt, die er in Briefen und Texten metaphorisch überzog, immer halb trotzig und halb kokett. Dieses vorgebliche Huronentum war nur Kostüm, aber eines, das ihm besser stand als der verquälte schulstubenhafte Stoizismus, in den er sich mit unstoischer Verve flüchtete, wenn es wieder einmal ging, wie es schlechter kaum hätte gehen können.
    Von dem französischen Forschungsreisenden Constantin François Volney, einem Zeitgenossen Seumes, erschien im gleichen Jahr, in dem Seumes Spaziergang herauskam, ein geographischer und ethnographischer Bericht mit Passagen über Kanada und dessen Ureinwohner. Dort findet sich eine Bemerkung über die ›Wilden‹, die gut für Seume, die alte huronische Haut, gepasst hätte: »So ist der Selbstmord bei ihnen keineswegs selten, sie töten sich aus Lebensüberdruss, manchmal aus enttäuschter Liebe oder aus Zorn, sich für eine grobe Verletzung ihrer Ehre nicht rächen zu können.«
    Bevor Seume zum wandelnden Label des »Spaziergängers nach Syrakus« wurde, ließ er sich in literarischen Kreisen als »Amerikaner« herumreichen und erzählte wilde Geschichten aus der Neuen Welt. Auch so entsteht ein ›Diskurs‹. Das lateinische Verb dazu, discurrere, bedeutet so viel wie hin- und herlaufen. Bei Seume war das Herumlaufen und -irren im Leben bis zur Ununterscheidbarkeit verwoben und verwachsen mit dem Diskurs, den er darüber führte. Was die von ihm nicht erlebten, aber offenbar erzählten Kriegshandlungen angeht, nahm er seine schriftlichen Erinnerungen zum Anlass, die mündlichen Geschichten zu relativieren:
»Kriegerische Vorfälle haben wir außer einigen Märschen nicht gehabt; ein einziges Mal schien es zu etwas Ernsthaftem kommen zu wollen, da die Franzosen den Ort [die Hafenstadt Halifax] anzugreifen drohten. Aber außer einigen Schüssen von den äußersten Batterien fiel nichts vor […] Wenn ich zuweilen von einigen

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