Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Soldaten, mit mehrern Bedienten, Weibern und Kindern von der Ambassade auf einen Boden des anderen Flügels von dem Gebäude retiriert, den von mir nur eine dünne Bretterwand schied. Eine starke Partei vermutlich von gestern oder schon wieder heute besoffener Polen, drangen auf den Boden, und die russischen Soldaten wollten den Angriff zurücktreiben. Das Gefecht fing also oben an. Stellen Sie sich vor, auf einem Obergebäude das Krachen der Schüsse, das Geklirr der Gewehre, das wütende unartikulierte Gebrülle der Polen, das Geschrei der Russen, das Kreischen der Weiber und Kinder in der Todesangst; es ist doch etwas ganz anders, als wenn man dergleichen nachgemacht auf dem Theater sieht und hört.«
Seume blieb unentdeckt und wartete ab, bis sich auf den Böden und in den Straßen die Lage beruhigt hatte. Danach warf er den Degen und die Uniformjacke weg und wagte sich hinunter, stets in Gefahr, als Russe identifiziert und abgeschlachtet zu werden. Als er in der Vorstadt auf ein polnisches Regiment mit französisch sprechenden Offizieren stieß, begab er sich in Kriegsgefangenschaft.
Im November 1794 wurde die Warschauer Vorstadt Praga von russischen Truppen unter dem Befehl von Feldmarschall Suwarow Hinweis gestürmt, Warschau selbst kapitulierte. So, wie es während des Aufstandes zu Übergriffen, Morden und Plünderungen des aufgepeitschten, plötzlich bewaffneten polnischen Pöbels kam, so wurden während der Rückeroberung entsetzliche Grausamkeiten an den niedergeworfenen polnischen Soldaten und an der Zivilbevölkerung in Praga und Warschau begangen.
Suwarow wollte seinen Soldaten beim Rückerobern der Stadt keine Zügel anlegen, und hätte es vermutlich auch nicht gekonnt. In die Obolen , im gleichen Jahr erschienen wie der Bericht über den polnischen Aufstand, hat Seume eine »Anekdote« dazu eingerückt:
»Gleich nach der Eroberung der Prager Linien [der Vorstadt Praga] kam ein ehrlicher Pole, der uns sonst in Gefangenschaft zu besuchen pflegte, um Abschied zu nehmen. Er war Hauptmann von einem Regimente, das bei der Aktion fast zugrunde gerichtet worden war; und er selbst war mit wenigen seiner Leute dem Tode entgangen. Eine große Träne stand dem Manne im Auge. Die Ihrigen haben wieder gesiegt, sagte er heftig zitternd, und hob den verwundeten Arm unwillkürlich empor: mein Vaterland ist nun ohne Rettung verloren. Wenn mir künftig noch jemand von Gott, Vorsehung, Gerechtigkeit und Tugend spricht, so will ich ihm die Antwort ins Gesicht speien. Dort liegen Weiber und Kinder und Greise zu Hunderten gemordet. Ihre Kameraden schlachten noch. Es sind keine Soldaten mehr dort; aber nun schänden sie Mädchen, um sie dann zu töten; ich schäme mich, ein menschliches Gesicht zu tragen.«
In einer drei Jahre nach den Obolen veröffentlichten Charakterschilderung Suwarows im Neuen Teutschen Merkur wird das, was in der Anekdote so herzzerreißend geschildert wird, ziemlich kaltschnäuzig erklärt und wenn schon nicht gerechtfertigt, so doch entschuldigt:
»Wenn das Ross in die Rennbahn gelassen ist, kann es nicht leicht aufgehalten werden; und wenn der Grenadier eine Batterie gestürmt hat und noch durch Blute watet, so steht bei ihm das höchste Moralgesetz in andern Charakteren als beim Philosophen auf dem Lehnstuhl.«
Und mit direktem Bezug auf die Ereignisse von Warschau:
»Die Vorwürfe, welche den Russen wegen ihrer damaligen Grausamkeit gemacht worden, sind zwar nicht ohne Grund, aber übertrieben. Dass eine Stadt ohne Unordnung erstürmt werden sollte, ist nicht möglich, so wie wir die Menschen nehmen müssen.«
Was hier irritiert, ist nicht der militärische Realismus, der ausspricht, was Sache ist, sondern der abfertigende Ton, in dem Seume zur Sache kommt. Außerdem sucht Seume die Verantwortung einmal mehr nicht bei denen, die sie ganz oben tragen, sondern bei den mittleren Rängen. Die Beschuldigung, unter Suwarows Oberbefehl habe es Unordnungen und Grausamkeiten gegeben, sei ihm »immer sonderbar vorgekommen«:
Diese Beschuldigung »fällt durchaus mehr auf den kleinen Kommandeur als auf den Chef, und der Feldmarschall kann oft nicht dafür stehen, wenn die Grenadiere Unheil anrichten; aber der Oberst und Hauptmann können und müssen es.«
In der Polenschrift von 1796 macht er folgende Bemerkung:
Suwarows »eigentümlicher Charakter ist schnelle Entschlossenheit und eben so schnelle kraftvolle Ausführung. Die Herzen seiner Soldaten hat er durch Popularität ganz in
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