Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
Vom Netzwerk:
Mann [Percival] sagt ohne Scheu geradezu, wenn wir das Vorgebirge haben, beherrschen wir den Handel Indiens, folglich den Handel der Welt, folglich – die Folgen sind alle klar. Das ist echt britisch; Britannia, rule the waves , und durch die Wogen mache den Erdball zinsbar! Freilich kann ein Brite nicht wünschen, dass das Kap in den Händen der Franzosen bleibe, […] aber ob irgend eine andere Nation zu wünschen Ursache habe, dass es in den Händen der Engländer sei, ist eine andere Frage.«
    Als Seume sich noch nicht an seinem Leipziger Schreibtisch über die Analyse der Weltlage beugte, sondern selbst in dieser Welt herumgeschubst wurde, musste er sich ganz andere Gedanken machen: Wo bekommt man sauberes Wasser her? Wie stellt man Zelte so auf, dass sie nicht vom ersten Windstoß gleich wieder umgeblasen werden? Wie lernt man die wichtigsten Bewegungsabläufe beim Exerzieren und wie bringt man sie, falls man auf einmal Sergeant wird, den anderen frischgebackenen (frischgepresst wäre der genauere Ausdruck) Soldaten bei? Wie organisiert, verwaltet und verteilt man die knappen Lebensmittel, falls man Fourier, also Quartiermeister, wird? Wie teilt man seinen Tagesablauf ein, falls man auch noch Regimentsschreiber wird?
»Ich tat abwechselnd Dienste, nach dem Behuf, als Korporal, Sergeant, Fourier und Feldwebel, so daß ich alle Süssigkeiten des kleinen Soldatenlebens gehörig auskosten konnte.«
    Das Zeltaufschlagen und Exerzieren brachte ihm ein graubärtiger preußischer Grenadier bei. Von dem »alten Satyr«, wie Seume ihn nennt, lernte der junge Sergeant die »kleinen Evolutionen« am Gewehr, die genau vorgeschriebenen Bewegungsabläufe beim Handhaben der Waffe. Beim Exerzieren ging es nicht bloß um eine Art des Übens wie etwa beim Erlernen eines Musikinstruments. Im Krieg war der Soldat selbst das Instrument, Teil einer riesigen Maschine, der Armee, die wiederum als Teil einer noch größeren Maschine, des Staates, aufgefasst wurde. In diese Maschine in der Maschine musste der Soldat eingefügt werden; und zwar so, dass seine Kreatürlichkeit so weit wie möglich zurückgedrängt wurde.
    Wenn Soldaten mit gleichem Schritt in geordneter Linie auf den Feind zumarschieren, kommt immer der Punkt, an dem die trainierte kollektive Kampfmaschine in lauter angsterfüllte Einzelkörper auseinanderfällt. Dieser Vorgang ist auf dem Schlachtfeld nicht zu vermeiden, aber hinauszuzögern. Die preußischen Grenadiere, von denen Seumes Lehrer einer gewesen war, hatten erst bei hundertfünfzig Schritt Feinddistanz eine Trefferquote von knapp fünfzig Prozent. Aber es kam vor, dass die Soldaten aus Angst schon auf achthundert Schritt Entfernung zu schießen begannen, was im direkten Wortsinn verschossenes Pulver bedeutete. Auch konnte es passieren, dass sich die kommandogesteuerten Salven in wildes Einzelschießen auflösten und dadurch die Tötungseffizienz, die sich ohne Weiteres in einem Quotient aus Gewehrkugeln und ›Manntoten‹ ausrechnen ließe, in der Disziplinlosigkeit zusammenbrach. Dieser Zusammenbruch erfolgte in jeder Schlacht, spätestens dann, wenn die Männer einander nah genug gekommen waren, um mit Bajonetten aufeinander loszugehen. Doch kam es darauf an, das Zerfallen des durch Drill geformten Gesamtkörpers einer Armee in lauter leidende Einzelleiber so lange wie möglich hinauszuschieben. Dies konnte schlachtentscheidend sein, besonders wenn es darum ging, einem zahlenmäßig überlegenen Heer ›entgegenzutreten‹ (in Wahrheit wurde gerannt). Ebendies war bei Friedrichs Feldzügen häufig der Fall, und die berüchtigte Disziplin der preußischen Armeen hatte großen Anteil an den berühmten Siegen des preußischen Königs.
    Seume verfügte mit seinem alten preußischen Grenadier über einen Lehrer aus dieser Tradition, als er in den Wäldern um Halifax heimlich die »kleinen Evolutionen« einstudierte, mit deren koordinierter Fülle ein großes Heer befehlend zu steuern ist. Warum allerdings Seume diese Nachhilfe überhaupt nötig hatte, ist schwer zu erklären. Immerhin hatte er vor der Verschiffung nach Übersee ein Jahr in der Festung Ziegenhain bei Kassel verbracht. Es ist kaum anzunehmen, dass die Soldaten dort nur in den Kasematten herumlungerten. Seume gibt jedoch in Mein Leben keine Auskunft über den Festungsalltag, sondern unterhält seine Leser lieber mit einem abenteuerlichen Bericht über einen gescheiterten Massenausbruch.
    Der durch Disziplin hinausgezögerten Panik auf dem

Weitere Kostenlose Bücher