Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
Ehrenposten, dessen lebenslängliche Dauer ich eben nicht sehr beneidete. Bei uns musste man Edelmann sein oder viel Geld haben, um im Staate ein Mann zu werden; […] Zuweilen tat Verbindung und Empfehlung auch etwas; und noch seltener wurde zufälliger Weise auch wohl wirkliches Talent bemerkt.«
Diese ohnehin schon geringen Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen – was Seume als Regimentsschreiber bereits gelungen war – und voranzukommen, wurden durch den Frieden abgeschnitten. Die Enttäuschung darüber war in Leipzig beim Abfassen von Mein Leben immer noch frisch wie in Halifax: Man wird in einem globalen Krieg wider Willen um die halbe Welt geschifft und verpasst doch die Chance, sich in dieser Ausnahmesituation zu bewähren und sein Glück zu machen.
»Im Kriege, […] wo man Männer für Ämter und nicht Ämter für Männlein sucht, sind die Ausnahmen [von der oben beschriebenen Regel] häufiger und es tritt da, dem Kastengeist zum schweren Ärger, nicht selten das alte primitive impertinente Menschenrecht wieder ein, dass jeder nur das gilt was er wert ist.«
Was Seume im Rückblick auf die Garnison von Halifax schreibt, hätte auch in Wallensteins Lager gepasst: Dort lässt Schiller einen Kürassier singen: »Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!/Ins Feld, in die Freiheit gezogen./Im Felde, da ist der Mann noch was wert,/Da wird das Herz noch gewogen./Da tritt kein anderer für ihn ein,/Auf sich selber steht er da ganz allein.«
Aufstand in Warschau
Seumes Herz wurde gewogen, als er ganz allein auf einem Warschauer Dachboden stand, versteckt hinter alten Fässern. Der polnische Aufstand gegen die russische Besatzungsmacht nach der zweiten polnischen Teilung von 1793 begann am Gründonnerstag 1794, wie Seume in Einige Nachrichten über die Vorfälle in Polen schreibt, und führte zu heftigen Straßenkämpfen:
»Die Schüsse flogen von den Ecken, aus den Kellern, aus den Fenstern, über die Mauern, von den Dächern; und von unten und oben und von allen Seiten und überall war Tod. […] Der ferne und nahe Donner der Stücke, der sich fürchterlich dumpf durch die Straßen brach, das Gekletter der kleinen Gewehre, der hohle Ton der Lärmtrommeln, der Totenlaut der Sturmglocken, das Pfeifen der Kugeln, das Heulen der Hunde, das Hurrageschrei der [polnischen] Revolutionäre, das Klirren ihrer Säbel, das matte Ächzen der Verwundeten und Sterbenden, nehmen Sie dieses alles in der tiefen, hellen, herrlichen Mitternacht, und vollenden Sie das Gemälde nach Ihrem eigenen Gefühl.«
Das ist ein anderer Ton als derjenige, den Gleim und Ewald von Kleist während des Siebenjährigen Krieges in ihren Liedern angeschlagen hatten, das ist kein Gereime, sondern Reportage. Durch diesen Text pfeift und kracht das Gemetzel, trotz der merkwürdigen Metaphernverschiebung gegen Ende der Passage, wo Freund Leser aufgefordert wird, das »Gemälde« zu vollenden – oder sollte Seume ein Klanggemälde gemeint haben?
Der Palast, in dem sich Seumes Chef, General Igelström, mit ein paar Hundert Mann verbarrikadierte, wurde belagert. Am Nachmittag des Karfreitag gelang ein Ausfall, und Igelström konnte sich mit einem Teil seiner Leute aus der Stadt kämpfen. Seume war nicht darunter.
»Ich war so glücklich gewesen, vor der Wut der besoffenen Parteien [bewaffnete Gruppen, teil Militärs, teils Zivilisten] mich verborgen zu halten, indem ich wirklich in den Todesstunden, wo keiner der Unsrigen, als nur Erschlagene und Halbtote, mehr zu sehen waren, meine Retirade [Rückzug größerer Militäreinheiten, hier eingesetzt mit sarkastisch, selbstironischem Nebensinn] hinter ein großes Bollwerk alter Fässer auf einem der obersten Böden nahm. Unzählige Parteien zogen zu Mord und Raube unter und neben mir hin, recognoscirten glücklich umsonst alle Schlupfwinkel um mich her, und zogen mit dem tröstlichen Fluche fürbaß: Verdammt, hier sind keine Russen. Sie sehen, lieber Freund, dass ich sehr offenherzig erzähle, da niemand um die Geschichte weiß, als ich selbst; denn dass ich die Nacht vom Karfreitag zum heiligen Sonnabend ganz ruhig hinter einer Batterie Tonnen auf einem der höchsten Böden Warschaus über Welt und Menschen und ihre und meine Narrheit philosophierte, wird man wohl schwerlich unter die Heldentaten rechnen. […] Der fürchterlichste Augenblick meines Lebens war den Sonnabend Morgens, als das Gefecht in einzelnen kleinen Partien wieder anfing. Es hatten sich nämlich noch einige von unsern
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