Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
seinen Händen; […] er überlässt sehr weislich die Disziplin seinen Unterbefehlshabern; übergibt ihnen das Strenge und Harte des Dienstes, und behält selbst davon nur das Gefällige; ein Betragen, das, wenn es recht verstanden wird, vortreffliche Wirkung hat und gar nicht zu tadeln ist.«
Der Vergleich der beiden Stellen macht deutlich, wie genau Seume die Psychologie des Herrschens beobachtet, und wie wenig er willens oder fähig ist, die kritische Konsequenz aus dieser Beobachtung zu ziehen. Suwarows Methode, die keineswegs nur die von Suwarow war und ist, läuft darauf hinaus, die Verantwortung für die Disziplin nach unten zu delegieren, um oben desto freier schalten zu können. Mit dem Einüben und Einprügeln der Disziplin machen sich die mittleren und vor allem die unteren Ränge direkt über den gemeinen Soldaten die Hände schmutzig; bricht in der Schlacht die Disziplin dann doch zusammen, sind daran wiederum die Offiziere und Unteroffiziere schuld. Und so, wie die Soldaten ihren Unmut nicht gegen den einen großen Chef in der Ferne richten, sondern gegen die vielen kleinen in der Nähe, die man tagtäglich auszuhalten hat, so soll das Rauben, Plündern und Morden während eines Feldzugs nicht dem großen Heerführer angelastet werden, sondern den unteren Kommandanten und einfachen Soldaten. Für den Feldherrn bleibt allein der Ruhm. Nur ein General, »welcher seinen Leuten die Plünderung verspricht«, wie es in den Apokryphen heißt, »stempelt sich dadurch faktisch zum Räuberhauptmann«.
Seume bewunderte Suwarow und machte daraus keinen Hehl. Die Charakterschilderung eröffnet mit dem Satz:
»Ich habe nie einen Mann gesehen, der mich – trotz allen widersprechenden Gerüchten, die zu seinem Vorteil und Nachteil herumgehen, und unter denen gewiss manche Märchen sind – bei dem ersten Anblicke mehr an sich gezogen hätte, als Suwarow.«
Vielleicht, weil der wie Seume ein Kleiner war und es trotzdem – im Unterschied zu Seume – zur Größe gebracht hat? Seume fährt fort:
»Er ist ein kleiner, hagerer, etwas gebückter Mann, jetzt ein siebzigjähriger Greis mit einem silberweißen Schädel. Aber jeder Nerve des Alten zeigt noch furchtbar schnelle Elastizität. […] Seine ganze Kunst ist, schreckliche Energie in die Seelen seiner Leute zu bringen, die es dann für unmöglich halten, unter seiner Anführung geschlagen zu werden.«
War nicht ebendies im Siebenjährigen Krieg Friedrich dem Großen zugeschrieben worden? Die Suwarow häufig vorgeworfenen Grausamkeiten wurden von Seume nie geleugnet, aber immer abgeschwächt. Noch im Spaziergang kommt er darauf zurück:
»Die Ungezogenheiten einiger seiner Untergebenen wurden wahrscheinlich ihm zur Last gelegt.«
Nicht weiter verwunderlich bringt er Suwarow gegen den verhassten Napoleon in Stellung:
Suworow sei, »wenn auch alles wahr war, was von ihm erzählt wird, immer noch ein Muster der Humanität gegen den Helden des Tages, Bonaparte, der auf seinen morgenländischen Feldzügen die Gefangenen zu Tausenden niederkartätschen ließ«.
Die persönliche Anhängerschaft für den russischen Feldherrn trübte aber Seumes politische Urteilskraft in den polnischen Angelegenheiten nicht. Seine Sympathie und sein Rechtsgefühl waren aufseiten der polnischen Nation, trotz der nicht nur von ihm geäußerten Überzeugung, die Unfähigkeit und Uneinigkeit des polnischen Adels habe die drei Teilungen Polens im Interesse der Rechtssicherheit und vor allem der Lebenssicherheit der Bevölkerung geradezu notwendig gemacht.
Stanislaus Poniatowski, polnischer König von der Zarin Gnaden und 1795 Unterzeichner der dritten, den Staat auflösenden Teilung, wird von Seume mit Herablassung behandelt, was damals seiner unglücklichen Rolle in den Ereignissen und heute seiner wenig ruhmvollen Stellung in der Geschichte angemessen war und ist.
Den polnischen Adel greift Seume mit Heftigkeit an, auch dies bis heute nachvollziehbar, wenn als Bewertungsmaß die Allgemeininteressen der polnischen Nation gelten und nicht die Sonderinteressen des Adels. Zudem lagen die Familien der Hocharistokratie jahrzehntelang untereinander in Fehde, verstrickt in nie endende Machtkämpfe. Diese Konflikte wurden in persönlichen Intrigen oder durch politische Winkelzüge ausgetragen, aber auch mit Waffengewalt.
Dass Seumes Heftigkeit mitunter überschäumt, hat nichts damit zu tun, dass vor Stanislaus Poniatowski einmal Sachsen (Wahl-)Könige in Polen waren: Kurfürst August der
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