Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
halte, beleidiget hätte.«
Bei dem vergeblichen Versuch auf der nordischen Reise, bei Igelström in Riga vorgelassen zu werden, kam es dann doch zu einer Beleidigung seines Ehrgefühls und zur Beschwerde darüber in Mein Sommer . Außerdem nimmt Seume seine tatsächliche Lage in der Erinnerung viel deutlicher wahr als während des Erlebens. »Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende« – heißt es in der 378sten von Goethes Maximen und Reflexionen . Das gilt für die sogenannten ›Großen der Weltgeschichte‹, und es trifft für jede einzelne Lebensgeschichte zu. Banal und banalisierend gesagt: Hinterher ist man immer klüger. Als russischer Leutnant mit Aussicht auf den Majorsrang lässt sich das Söldnertum nicht so kritisieren wie nach dem Ausscheiden aus dem Dienst. Das ist nicht nur eine Frage der Opportunität – wer günstige Gelegenheiten verschmäht, mag Opportunismus sagen; das ist auch eine Frage der historischen wie biographischen Einsichtsfähigkeit. Im Leben will man vieles nicht sehen, vor allem, wenn man noch viel vor und noch viel vor sich hat. Aber manches kann man auch nicht sehen, weil sich die historische Hinterseite der jeweiligen Gegenwartsverhältnisse erst im Rückblick zeigt, wenn diese Gegenwartsverhältnisse einschließlich der mit ihnen verbundenen Zukunftserwartungen längst Vergangenheit geworden sind.
Trotzdem kann und soll man während des ganzen Lebens die Augen offen halten, nicht bloß zum Schluss, wenn die Erinnerung zu einer Form des Abschiednehmens wird. Als junger Mann in der Garnison von Emden hatte Seume noch Furcht und Hoffnung, die er sich später mit viel rhetorischem Beschwörungsaufwand von der Seele reden und vom Leib halten wollte. Der Furcht machte er in einem Brief an den Jugendfreund Korbinsky auf Versfüßen satirisch Beine:
»Des Morgens, wenn die Hähne krähn,
Bequemet man sich aufzustehn.
Der Tambour lärmt, der Corporal
Durchflucht den Gang wohl zwanzig mal,
Und donnert an die Stubentür
Dem vielgeplagten Musketier.
Der Fuß gestiefelt in Gamaschen,
Gewehr poliert, der Säbel blank,
Rauscht man zu Haufen durch den Gang
Mit hell gewichsten Pulvertaschen
Lauf auf den Hof. Heran, rangiert,
Die Compagnie wird rechts formiert,
Und mancher fühlt den schweren Stock
Durch seinen leichten blauen Rock.«
In einem weiteren Brief brach sich durch die Verzweiflung über das öde, sinnlose Söldnerleben die Hoffnung Bahn. Seume bedichtete den Entschluss, erneut zu desertieren, und rechtfertigte ihn dann:
»Mag ihn Kriegsdogmatik verdammen, gilt mir gleich: Das Naturrecht verteidigt ihn.«
Kurz darauf scheiterte auch diese Desertion. Das Gedicht, in dem er sie ankündigte, enthält den Hinweis, dass er in Emden als Söldner dient, nicht als patriotischer Soldat:
»Zög ich hoch für mein Vaterland mein Schwert,
Mit Feuer wollt ichs ziehn,
Und wie ein Deyier für Altar und Herd
Im Opfertod der Feinde glühn.
Wer aber schuf dir Fremdling, solch ein Recht,
Dass du zum Sklav mich machst«
Die Verse sind moralisch richtig, aber metaphorisch kurios verkehrt. Mit den »Deyiern« meint Seume die Soldaten des Dey, des Kommandanten der Janitscharen. Diese Miliz des Osmanischen Reiches bestand zuerst aus Kriegsgefangenen der unterworfenen Völker und aus christlichen Söldnern. Seit dem ersten Drittel des 15ten Jahrhunderts wurde die Miliz zu einer Elitetruppe umgeformt. In den besetzten christlichen Gebieten wurden Knaben zwangsrekrutiert, verschleppt und in besonderen militärischen Institutionen zu islamischen Kriegern ausgebildet. Die Truppe bezog während ihrer Blütezeit – wenn der zarte Ausdruck dem martialischen Gewerbe angemessen ist – keinen Sold, sondern wurde vom Sultan verpflegt. Sie waren also keine käuflichen Söldner. Gleichwohl wurzelte ihr berüchtigter Fanatismus nicht in einem wie auch immer phantasierten patriotischen Boden, sondern war Ergebnis einer kulturellen Raub- und Zwangssozialisation. Dass Seume das Fechten fürs Vaterland ausgerechnet mit Leuten versinnbildlicht, die gar keines haben, ist ein metaphorisches Missgeschick, allerdings ein leicht verzeihliches. Das Versmaß muss stimmen bei aller Verzweiflung, und anders als die Deyier hätten die besser passenden Spartaner eine Silbe zu viel gehabt – abgesehen davon, dass es in der historischen Wirklichkeit Spartas mit seinen Helotenheeren und Söldnertrupps auch nicht so heroisch vaterländisch zuging wie später in der Geschichte
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