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Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)

Titel: Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Preisendörfer
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Starke und dessen Sohn. Solcher Lokalpatriotismus lag Seume trotz seiner Heimatgefühle fern. Die Heftigkeit rührt vielmehr vom Grundsätzlichen seiner Kritik her. In der zurückliegenden polnischen Nationalkatastrophe erblickte er das, was Deutschland möglicherweise bevorstand. Der polnische Adel habe die Nation im Streit um Partialinteressen geopfert, so wie der Adel in den deutschen Ländern wegen des Festhaltens an seinen Privilegien unfähig sei, die Fremdherrschaft Napoleons abzuschütteln:
»Wenn unser Adel«, notiert Seume in den Apokryphen , »nur seine Steuerfreiheit, seine Frohne und seinen Dienstzwang rettet, ist er jedermanns Sklave, der ihm seinen Unsinn behaupten lässt.«
    Was Seume über Polen sagte, das sollten sich die Deutschen gesagt sein lassen. Er überblendete das Schicksal der polnischen Nation mit dem Schicksal der deutschen Länder, die noch nicht einmal Nation waren, sieht man von dem maroden und durch Napoleon endgültig zertrümmerten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einmal ab.
    In Mein Sommer kommt es im Rückblick dann sogar zu einer Überblendung zwischen dem Schicksal Polens und dem Seumes. Die Menschen in Warschau leben in Ruinen, und Seume ahnt, dass er selbst bald von Reminiszenzen werde leben müssen:
»In Warschau hielt ich meinen Einzug […] den nämlichen Abend, wo ich vor elf Jahren abwechselnd hier und da unter dem Kartätschenfeuer stand. Es waren zwei heiße Tage, der blutige grüne Donnerstag und der Karfreitag. Ich fand mein ganzes Tabernakel noch eben so in Trümmern, als damals am heiligen Ostertage. Es war noch kein Stein wieder gelegt, und man schien sich in dem Anblick des Monuments der letzten Nationalkraft melancholisch zu gefallen. Der Name Russen und Igelström wurde noch immer von den Vorübergehenden gemurmelt. Unser Speisesaal ist eine Ruine, das Wachhaus eine Wäsche, die Kriegskanzlei eine Schmiede, und mein Zimmer im Hintergebäude des Palastes hängt ohne Treppe in der Schwebe. Die Zeit wird bald kommen, wo ich bloß von Reminiszenzen werde leben müssen: ich stand also an der Torecke, wo wir an dem heißen Tage den Eingang mit blutigen Leichnamen und toten Pferden verrammelt hatten, und durchlief die Verflechtungen meines Schicksals.«
    Soldat und Söldner
    Seume hat sich selbst als jemanden bezeichnet, »der zweimal gegen die Freiheit zu Felde zog«, und wirklich stand er immer auf der falschen Seite: in Amerika als englischer Söldner, in Warschau als »Russe durch den Dienst«, der seine »Pflicht mit Ingrimm« tat. War er also ein »Dukatenkerl«, wie er in Mein Sommer die Soldaten nannte – oder noch forcierter in seinen Apokryphen beschrieb?
»Es kann in seinem Ursprung nicht leicht ein schlimmeres Wort sein als Soldat, Söldner, Käufling, feile Seele, solidarius [abgeleitet vom lateinischen Solidus, einer Münze] glimpflich Dukatenkerl. Die Sache macht die Ehre des Kriegers; aber ein Soldat kann als Soldat durchaus auf keine Ehre Anspruch machen. Es ist ein unbegreiflicher Wahnsinn des menschlichen Geistes, wie der Name Soldat ein Ehrentitel werden konnte.«
    Was Seume gegen Ende seines Lebens »unbegreiflich« findet, hat er während seiner aktiven Zeit selbst praktiziert. Nach der Beförderung zum Leutnant widmete er seinem Chef General Igelström die im Oktober 1793 in Warschau erschienene Schrift Über Prüfung und Bestimmung junger Leute zum Militär :
»Dass der Kriegsstand von dem niedrigsten Individuum bis zum Chef die Achtung und die Aufmerksamkeit jedes Weltbürgers in dem ausgezeichnetesten Grade verdiene, lehrt die Geschichte mit blutigen Exempeln. […] Der Soldat ist notwendig nach allen politischen Einrichtungen der Staaten, notwendig nach der menschlichen Natur.«
    Im militärischen Alltag, auf dem Exerzierplatz und in der Schreibstube ist vom historischen Pathos der »blutigen Exempel« freilich nichts zu spüren. Im Bericht über die Vorfälle in Polen schildert Seume neben der Tragödie des Aufstands und dessen Niederschlagung auch die Routinearbeit eines Korrespondenz führenden Sekretärs. Dabei nimmt er, der sonst so leicht gekränkte, wieder einmal einen obersten Chef in Schutz:
»Es haben wenige Offiziere in ihren Verhältnissen so viel unter ihm zu arbeiten Gelegenheit gehabt als ich; ich bin kein Mann, der sichtliche Verachtung von jemand ganz ruhig vertrüge, auch wenn er die rechte Hand eines Monarchen wäre; ich kann mich aber auch nie erinnern, dass er je mein Ehrgefühl, welches ich für sehr fein

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