Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
das Beispiel des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation bestätigt, deren Fürsten Napoleon nichts entgegensetzen konnten und wollten und ebenfalls nur an ihre Separatinteressen dachten.
Das Volk wiederum war unreif, schwach und der Diener vieler Herren, kleiner und naher wie großer und ferner. Es fehlte die Zentralgewalt, die durchgreifende monarchische Obhut. Die mit den absolutistischen Fürsten sympathisierenden Aufklärer und die diese Aufklärer begönnernden Fürsten, allen voran Friedrich der Große von Preußen und Katharina die Große von Russland, haben das Volk immer als Kind behandelt, das auf den väterlichen Schutz und die mütterliche Sorge der Monarchie angewiesen ist. Seume ist ganz auf dieser Linie. Daran ändert auch die Einschränkung nichts, der schlechte Fürst habe immer zu viel Gewalt, während sie dem guten immer irgendwo fehle. Das ganze »philosophische Jahrhundert« über hielten die Aufklärer an der Idee fest, ein (natürlich von ihnen selbst) zum guten Regieren erzogener Herrscher sei ideal für die Regierten und optimal für den Staat. Diese Vorstellung fasste Carl Gottlieb Svarez, einer der treibenden Justizbeamten bei der Reform und Kodizifierung des preußischen Rechts, Anfang der 1790er-Jahre so zusammen: »Sicherheit des Eigentums und der Rechte für jeden einzelnen durch die vereinigten Kräfte aller, ungestörter Gebrauch der natürlichen Freiheit eines jeden, soweit damit die Sicherheit und Freiheit der übrigen bestehen kann, Erleichterung der Mittel und Gelegenheiten zur Beförderung des Privatwohlstandes durch Veranstaltungen zur Ausbildung des Verstandes und des Herzens, wodurch allein Neigung und Bereitwilligkeit zur Erfüllung der Pflichten des Wohlwollens erreicht werden kann – das sind die großen und wichtigen Zwecke der bürgerlichen Gesellschaft, zu deren Erreichung sie dem Regenten die Macht, ihr zu befehlen, übertragen und die Disposition über ihre vereinigten Kräfte seinen Händen anvertraut hat.«
Der König ist nicht bloß »oberster Diener des Staates«, wie Friedrich II. in seiner oft missverstandenen monarchischen Selbstdefinition von sich behauptet hat, sondern Garant der »bürgerlichen Gesellschaft« – die im modernen Sinn gar keine war und auch keine werden sollte. Eben weil die historische Entwicklung in Deutschland stecken blieb, konnten sich die Spätaufklärer am Ende des Jahrhunderts und nach der Revolution in Frankreich nicht von den Illusionen lösen, die sie sich seit der Mitte des Jahrhunderts über den aufgeklärten Absolutismus gemacht hatten. Seume ist keine Ausnahme. In der Vorrede zum Spaziergang schrieb er:
»Die Sklaven haben Tyrannen gemacht, der Blödsinn und der Eigennutz haben die Privilegien erschaffen, und Schwachheit und Leidenschaft verewigen beides. Sobald die Könige den Mut haben werden, sich zur allgemeinen Gerechtigkeit zu erheben, werden sie ihre eigene Sicherheit gründen und das Glück ihrer Völker durch Freiheit notwendig machen.«
Ausgerechnet die Könige, die sich ohne das Machtmittel der Privilegienverteilung in ihren Palästen gar nicht halten könnten, sollen die Privilegien der wenigen abschaffen und die Freiheit der vielen garantieren. In seiner Rezension von Merkels Buch über die Letten setzte sich Seume keineswegs zwischen die Stühle in Paris und an der Newa, wie er selbst glaubte, sondern verteidigte für die Fiktion vom guten König noch einmal den Thron:
»Ich bin selbst ganz fest davon überzeugt und würde selbst in Paris meine Meinung nicht ändern, dass eine geordnete, gesetzmäßige, auf Gerechtigkeit gegründete, nach Menschennatur und Menschenleidenschaft berechnete Monarchie für die Nationen die glücklichste Regierungsverfassung sei: aber ich bin ebenso sehr davon überzeugt, und werde es auch an der Newa nicht verschweigen, dass die Verletzung der ersten heiligen Menschenrechte die Kraft des Staates untergräbt, das Wohl der meisten und wichtigeren Bürger vernichtet und endlich seine ganze Existenz in Gefahr setzt.«
Seume blieb in der Tradition der Aufklärung vor »89« und begriff nicht, was die neue Zeit von der alten trennte. Weil er den inneren König nicht köpfte, konnte er kein Republikaner werden. Ebenso wenig konnte er den Widerspruch lösen zwischen der konventionellen Behauptung, der König als Einziger überblicke das Ganze, und der ebenso konventionellen Entschuldigung, der König könne nichts für die Missstände, weil er nichts von ihnen wisse. So schrieb er
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