Der wahre Feind: Kriminalroman (German Edition)
anderen Straßenseite hinüber. Sie zeigte, wie die beiden sich küssten, ehe sie die Bibliothek betraten.
» Den können wir also auch vergessen. Wo sollen wir jetzt suchen?«
Katrine gähnte. » In der Gothersgade?«
» Haben wir doch schon ein paarmal gemacht.«
» Christian IX ’s gade?«
» Na gut, versuchen wir es da noch mal.«
So langsam waren sie alle Straßen gründlich durchgegangen. Sie schaute auf die Uhr. Sie arbeiteten jetzt seit über zwölf Stunden und liefen immer mehr Gefahr, aus Erschöpfung etwas zu übersehen. » Ich glaube, wir sollten für heute Schluss machen.«
Niels nickte. Er und Claus standen auf und fuhren den Teil der Server herunter, die von Polyphem genutzt wurden. Es würde noch eine Viertelstunde dauern, bis sie fertig waren. Katrine brauchte dringend eine Zigarette, war aber gezwungen zu warten. Sie drehte die Schachtel in ihren Händen und sah sich um. Am Whiteboard hingen die Porträts der dreiundzwanzig Todesopfer und starrten sie an. In der vergangenen Woche hatte sie ihnen absichtlich den Rücken zugekehrt. Mit jedem Tag, der verging, ohne dass sie einen neuen Anhaltspunkt fanden, fühlte sich Katrine von ihren Blicken mehr angeklagt. Jetzt aber betrachtete sie diese Personen ganz bewusst. Es waren normale Menschen. Vielleicht ein wenig stilbewusster als der Durchschnitt. Besser gekleidet. Die meisten von ihnen lächelten, weil ihre Fotos von Familienporträts stammten. Es waren Menschen, die bis zu ihrem letzten Mahl ein komfortables Leben geführt hatten.
» Warst du mal im Café Felix essen?«
Niels wandte sich vom Kontrollpult ab. » Mit unserem Gehalt? Unmöglich.«
» So jemanden hätten die auch nie reingelassen«, scherzte Claus weiter hinten.
» Kannst du dich daran erinnern, wer mit wem zusammensaß?«
Niels trat an die Tafel. » Die Ermittler haben das ja alles schriftlich festgehalten, aber einen Teil habe ich mir gemerkt.« Er betrachtete die Fotos. » Sie hier ist ja quasi die Bekannteste.« Er zeigte auf das Gesicht von Lene Paludan. » Das ist die, die zusammen mit ihrem Baby umgekommen ist.«
» Das weiß ich«, entgegnete Katrine rasch.
» Und das sind ihre Freundinnen.« Er zeigte auf mehrere Porträts, die nebeneinander hingen. » Einmal im Monat haben sie sich zu einem gemeinsamen Mittagessen getroffen. Die meisten von ihnen waren Hausfrauen, abgesehen von dieser hier, die irgendeinen Marketingjob hatte, und von der hier, einer Juristin.«
» Wer sind die vier jungen Männer?«, fragte Katrine und zeigte eine Reihe tiefer.
» Das sind die Kellner«, antwortete Niels. » Daneben haben wir die Mitarbeiter von drei verschiedenen Unternehmen. Bei dem einen handelte es sich, glaube ich, um eine Bank oder Steuerberatungsfirma. An die beiden anderen Unternehmen kann ich mich nicht mehr erinnern.«
» Und dieser hier?«, fragte Katrine und zeigte auf einen jungen Mann in Uniform.
» Ein unglücklicher Soldat.«
» Warum nennst du ihn so?«
» So hat ihn die Presse getauft. Er war in Afghanistan stationiert und wäre dort fast von einer Mine in Stücke gerissen worden. Und dann fiel er direkt nach seiner Heimkehr einem Bombenattentat zum Opfer.«
Niels schüttelte den Kopf. Dann drehte er sich um und ging zum Server zurück.
Katrine betrachtete das Foto des Soldaten. Es war eines der typischen Porträts, wie sie beim Militär gemacht wurden. Er sah aus wie ein stolzer Junge, den man in eine Paradeuniform gesteckt hatte. » Jonas Vestergaard« stand unter dem Foto.
» Mit wem zusammen hat er das Café besucht?«
» Wer?«
» Jonas Vestergaard, der unglückliche Soldat.«
» Er war allein. Stand an der Bar, als die Bombe hochging.«
» Was wollte er im Café Felix?«
» Ich weiß nicht. Ein Bier trinken, einen Freund treffen … warum?«
Katrine zuckte die Schultern. Sie hing bereits ihren eigenen Gedanken nach. Je länger sie das Foto betrachtete, desto stärker fiel ihr auf, wie sehr es sich von allen anderen Fotos unterschied, was nicht nur an der Uniform lag. Er war zehn bis fünfzehn Jahre jünger als die übrigen Gäste und gehörte einer ganz anderen Einkommensschicht an. Ein heimgekehrter Soldat. Was hatte er in diesem noblen Restaurant zu suchen gehabt? Und dazu noch allein? Katrine konnte ihn sich sehr viel besser bei McDonald’s oder an einer Würstchenbude vorstellen.
» Haben wir eine Videoaufzeichnung von ihm?«
Niels schüttelte den Kopf. » Polyphem hat nichts entdecken können.«
» Dann müssen wir eben selbst
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