Der wahre Feind: Kriminalroman (German Edition)
schaute sie verblüfft an. » Was ist, Katrine?«
» Ich Idiot!«, rief sie. » Heute hört doch der Ramadan auf. Überall im Land wird das Fest des Fastenbrechens gefeiert. Tausende von Leuten sind auf den Straßen und feiern. Und die größte Feier findet auf dem Rathausplatz statt. Das muss Løvengrens Ziel sein.«
60
Benjamin ging über den Zebrastreifen am H. C. Andersens Boulevard in Richtung Rathausplatz. Er richtete den einen Gurt seines Rucksacks, der an seiner Schulter scheuerte. Auf dem Kopf trug er eine Baseballkappe, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Den Kragen seiner Jacke hatte er so weit hochgeschlagen, dass sie den unteren Teil seines Gesichts verdeckte. Er hätte auch gern eine Sonnenbrille getragen, doch jetzt am Abend wäre er damit aufgefallen. Er war sich ziemlich sicher, dass er auf dem Platz niemandem begegnen würde, den er kannte, und die Polizei hatte sicher Besseres zu tun, als nach ihm zu suchen.
Der Rathausplatz war voller Menschen. Die Luft war von Musik und Stimmengewirr erfüllt. Es mussten sich zwischen zehn- und fünfzehntausend Menschen versammelt haben, die meisten von ihnen Muslime, doch waren auch viele Dänen darunter. Von den zahlreichen Essensständen ging ein verlockender Duft aus. Eine Schar acht-, neunjähriger Mädchen zog bunte Luftballons hinter sich her. Er tippte einen der Luftballons an und lächelte ihnen zu. Die Mädchen lächelten zurück, ehe sie in der Menge verschwanden. Er schaute sich um. All die fremdartigen Gerüche und Geräusche und all die dunklen Gesichter erinnerten weniger an Dänemark als an einen orientalischen Basar. Er war überrascht gewesen, als Løvengren ihm von dem Fest auf dem Rathausplatz erzählt hatte. Er dachte, der Platz dürfte nur für große Veranstaltungen benutzt werden, wenn eine Fußball- oder zur Not auch eine Handballmannschaft gefeiert wurde. Doch Løvengren hatte für den Angriff natürlich das perfekte Ziel ausgesucht. Benjamin dachte an die Rede, die Løvengren gehalten hatte. Er hatte gesagt, sobald der Ramadan vorbei sei, würde der Terror der Muslime wieder beginnen. Dann sei die Fastenzeit vorbei, und die Muslime seien dem Koran zufolge verpflichtet, zu den Waffen zu greifen und die Ungläubigen zu bekämpfen. Deshalb müsse man ihnen zuvorkommen und sofort zuschlagen. Den Feind mit diesem Angriff lähmen. Sie hatten jeder ihren Rucksack mit Sprengstoff ausgeliefert bekommen, fast zehn Kilo, die eine ungeheure Sprengkraft haben würden. Alle Ziele im Umkreis von mindestens dreißig Metern würden unweigerlich vernichtet werden. Zusammen mit den übrigen Bomben, die auf dem Platz explodierten, würden sie den gesamten Platz dem Erdboden gleichmachen. Es war ein Leichtes für ihn gewesen, die Zündsätze im Sprengstoff zu platzieren und den Detonator richtig einzustellen. Er hatte auch L. T. mit seinem » Päckchen« geholfen. Danach waren sie die Orte durchgegangen, an denen die Sprengladungen deponiert werden sollten. Seine eigene sollte mitten auf dem Platz vor der großen Bühne explodieren. Dort standen die Leute bereits dicht gedrängt und warteten darauf, dass Outlandish, die bekannteste Band dieses Abends, mit ihrem Konzert beginnen würde. Er konnte sich an einige ihrer Lieder erinnern und fand sie richtig gut. Die verdienten sicher viel Geld und bekamen jede Menge Mädels gratis.
Benjamin gähnte. Er hatte keine Minute geschlafen. Weil die Polizei das Firmengelände überwachte, hatten sie es zu Fuß durch den Hinterausgang verlassen müssen. Zunächst war er L. T. gefolgt. Zahlreiche Stacheldrahtzäune der umliegenden Industriegrundstücke hatten sie aufgeschnitten und sich auf diese Weise bis zur Umgehungsstraße vorgearbeitet. Benjamin war auf die Toilette der nächsten S-Bahn-Station gegangen und hatte dort auf den Frühzug gewartet. L. T. war weiter in Richtung Stadt gegangen und hatte später einen Bus nehmen wollen.
Als sie sich voneinander verabschiedeten, hatte L. T. ihm die letzten Anweisungen gegeben. Es sei wichtig, einen Ort für den Rucksack zu finden, an dem er nicht zufällig von einem Passanten entdeckt werden konnte. Was auf einem Platz mit so vielen Menschen natürlich schwierig werden würde. Es sei jedoch ebenso wichtig, dass er so entspannt wie möglich auftrat. Er solle sich so wenig wie möglich umsehen und schon gar nicht nach den anderen Mitgliedern ihrer Operation Ausschau halten. Das könne sowohl ihn als auch die anderen gefährden. Letzteres fiel Benjamin besonders
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