Der wahre Hannibal Lecter
Ich habe mich doch selbst gestellt.« Dabei blickt er ungläubig auf die Ketten, die seine Fußgelenke einschnüren. Er versucht, weit auszu-schreiten, doch es gelingt ihm nicht. Die Fesseln sind so angebracht, dass er sich nur mit kleinen Schritten vorwärts bewegen kann.
»Das ist vom Gericht so angeordnet«, lautet der ganze Kommentar eines Beamten, und man spürt dass ihm diese Entscheidung Freude bereitet.
Mühsam schleppt sich Maudsley durch den Gang. Die Beamten gehen mit ihm zur angegebenen Saalnummer. Der ranghöchste Beamte klopft vorsichtig an die Tür und wartet darauf, ein »Herein« zu hören. Noch einmal versucht er, die Aufmerksamkeit der Personen in dem großen Schwurgerichts-saal zu wecken. Wieder erhält er keine Antwort. Zögernd drückt er die Klinke herunter und blickt durch einen kleinen Türspalt. Noch nie hat er mit einem Gefangenen diesen Raum betreten. Es ist das größte Verhandlungszimmer des Gerichtes.
Nach ihm betritt Maudsley den ehrwürdigsten Raum dieses historischen Gebäudes. Das Begleitpersonal wird angewiesen, neben Maudsley Platz zu nehmen.
Ehrfürchtig, sich nach allen Seiten artig verbeugend, setzt sich Maudsley an den ihm zugewiesenen Platz. Er blickt auf die überfüllten Zuschauerplätze und lächelt verlegen. Maudsley stand schon einmal vor einem Gericht und kennt die Atmosphäre, doch was er hier vorfindet, überwältigt ihn. Alle Wände sind holzgetäfelt. Selbst die Decke besteht aus schweren Holzkassetten. Zu seinem Platz hat man Maudsley über endlose Holzstufen gebracht. Der ganze Ort erinnert ihn an einen hölzernen Käfig. Alle Plätze scheinen mehrere Meter über ihm zu sein. Er hat das Gefühl, sich in einer Arena zu befinden. Ängstlich betrachtet er die anwesenden Menschen.
Der Saal flößt ihm Angst ein. Unglaubliche Angst. Er hört förmlich schon das Wort »lebenslänglich«.
Sein Rechtsanwalt, den er wegen der bis zur Schulter reichenden Perücke zuerst gar nicht erkannt hat, nimmt vor ihm Platz. Seinen Mandanten würdigt er keines Blickes. Schon auf den Gängen vor dem Gerichtssaal war er nur damit beschäftigt, den Reportern die richtige Schreibweise seines Namens beizubringen. Die Not seines Klienten kümmert ihn auch jetzt nicht.
Der Gerichtsdiener in Livree klopft mit seinem Stock dreimal auf den Boden; das hohe Gericht betritt den Saal.
Maudsley erschrickt als er die Vielzahl der Richter und Geschworenen sieht. Der Vorsitzende nimmt Platz und eröffnet die Verhandlung. Zunächst überprüft er, ob sich unter den Zuhörern tatsächlich nur Journalisten befinden und keine Privatpersonen. Denn bei einem Jugendprozess sind keine Zuschauer zugelassen. Als er dies bestätigt sieht fordert er den Staatsanwalt auf, die Anklage vorzutragen. Während der gesamten, fast zweistündigen Verlesung der Anklageschrift hat der Vorsitzende Richter nur eine Person im Auge: Robert John Maudsley.
Das Gericht lässt Milde walten
Der Staatsanwalt lässt kein Detail aus: Jede Verletzung, die Maudsley seinem Opfer zugefügt hat, zählt er penibel auf. Er versucht, die Misshandlungen, die der Angeklagte in seiner Kindheit zu erdulden hatte, herunterzuspielen. Immer wieder verweist er auf die psychologischen Gutachten, die seiner Meinung nach keinen Anlass geben, mildernde Umstände in Betracht zu ziehen. Ja, er fordert das Gericht dazu auf, den Angeklagten nach dem Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen.
Tagelang wird einzig und allein über die Kindheit des Angeklagten gesprochen. Obwohl die Staatsanwaltschaft permanent versucht, diesem Aspekt etwas von seinem Gewicht zu nehmen, interessiert sich der Vorsitzende Richter dafür sehr.
Immer wieder hakt er nach, wenn die Zeugen oder der Angeklagte selbst von schlimmen Erlebnissen berichten. Ihm ist offensichtlich sehr daran gelegen, den wahren Grund für Maudsleys Tat herauszufinden. Psychologen, die den Angeklagten für voll zurechnungsfähig erklärt haben, müssen sich herbe Kritik des Vorsitzenden gefallen lassen.
Die Verteidigung erkennt schnell, wie beeindruckt das Gericht von der entsetzlichen Kindheit dieses jungen Menschen ist. Maudsleys Anwalt versucht in seinem Schlussplädoyer, diese Situation zu nutzen. Immer wieder verweist er auf ein Gutachten, das seinem Mandanten eine »verminderte Zurechnungsfähigkeit« attestiert. Und er hat damit Erfolg. Das Gericht entscheidet sich, Robert John Maudsley noch einmal eine Chance zu geben. Zu den Gründen zählt es vor allem »eine Kindheit, die man sich
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