Der wahre Hannibal Lecter
schlimmer nicht vorstellen kann, und ein Elternhaus, das ihn zum Außenseiter in unserer Gesellschaft gemacht hat«. Mehrmals weist der Vorsitzende darauf hin, dass eigentlich ein anderer Mann auf diese Anklagebank gehört hätte: der Vater.
Robert John Maudsley wird zu einer Zeitstrafe verurteilt, deren Verbüßungsrahmen im Ermessen des Gerichts liegen und von Zeit zu Zeit überprüft werden soll.
»Es liegt nun an Ihnen selbst wie Sie sich in der Strafanstalt verhalten und was Sie letztendlich aus dieser Chance machen«, ermahnt der Richter den Angeklagten.
Dass ein solches Urteil überhaupt möglich ist, liegt daran, dass der Richter Maudsley als Jugendlichen einstuft. Jeder Erwachsene hätte für diese Tat lebenslänglich erhalten.
»Der Anklagte in diesem Sensationsprozess ist nicht mehr der kleine Junge, dem man die Marmelade vom Brot nehmen will«, warnt der Staatsanwalt. »Er wird wieder morden, immer wieder.«
Nach dem Ende der Verhandlung wird der Staatsanwalt noch deutlicher: »Das Gericht war sehr gnädig in diesem Fall, glauben Sie mir. Ob dieser Mann diese für mich sehr geringe Strafe verdient hat – wir werden sehen. Ich glaube es nicht.
Über Stunden habe ich mich mit dem Gerichtsmediziner auseinander gesetzt, der die Leiche des Opfers obduzierte. Auch er war der Meinung, wenn ein junger Mensch zu solch einer Tat fähig ist die, milde ausgedrückt, einer Schlachtung gleich-kommt dann wird er es wieder tun.«
Der Ankläger kann die Milde des Gerichts nicht verstehen.
In seinem Büro wirft er die Akte Maudsley wütend in eine Ecke. Die offensichtliche Niederlage in diesem für ihn so wichtigen Prozess macht ihm schwer zu schaffen. Auf die Frage seiner Sekretärin: »Na, wie ist es gelaufen, Herr Oberstaatsanwalt?«, antwortet er erst gar nicht.
Robert John Maudsley wird derweil zu dem bereitgestellten Transportwagen gebracht. Das Gericht hat dafür gesorgt, dass kein Reporter an ihn herankommt. Müde und ausgelaugt steigt er in das Auto, das ihn zurück ins Gefängnis bringen wird.
»Na, da kannst du dich aber nicht beschweren über dieses Urteil«, macht sich einer vom Begleitpersonal Luft.
Auch sein Kollege ist über das Strafmaß empört: »Von mir hättest du lebenslänglich bekommen.«
Robert sagt während der ganzen Fahrt kein Wort. Er ist froh, als er wieder in seiner Zelle sitzt. Er will jetzt nur allein sein, mit sich und seinem Urteil. Er setzt sich an den kleinen Tisch und stützt seinen Kopf in beide Hände. Seine dunklen Haare hängen ihm ins Gesicht, das von der Dauer des Prozesses schwer gezeichnet ist. Die vormals stechenden Augen haben jeden Glanz verloren. Mit seinen klobigen Fingern tippt er unentwegt gegen seine Stirn. Er schüttelt den Kopf, als könne er das alles nicht glauben. Er denkt darüber nach, was dieses Urteil, von dem er geträumt hat, jetzt für ihn bedeutet. Er kann sich sicher sein, dass er diesen verfluchten Ort irgendwann einmal als freier Mann verlassen wird. Er wird nicht bis an sein Lebensende eingesperrt sein. Er hat wieder eine Zukunft.
Darauf hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt. Lange bevor das Licht in der Zelle gelöscht wird, geht Robert John Maudsley zu Bett. Er will jetzt vergessen. Alles. Sein Urteil, seine Situation.
Die Nacht soll seine kaputte Seele heilen.
Schon am nächsten Tag liest der Oberstaatsanwalt sich noch einmal die unzähligen Stellungnahmen zu Robert Maudsley durch. Er erinnert sich, was die befragten Psychologen über ihn denken. Dann holt er deren Gutachten noch einmal hervor und liest: »Robert John Maudsley ist zu einem perfiden, eiskalten Scheusal geworden, das sich vermutlich in seiner Identität als Mensch nicht mehr zu Hause fühlt. Seine Psyche darzulegen, gar zu verstehen, wer kann dies von sich behaupten? Viele Psychiater haben dies zumindest versucht. Doch sein Denken und Handeln ist mit den Kriterien der Psychologie einfach nicht zu begreifen. Robert John Maudsley lebt nach seinen eigenen Gesetzen. Seine Schranken hat er bis heute nicht erkannt.«
Ist der Angeklagte also ein Monster ohnegleichen, eines, dessen kindlich naive Züge zusätzlich verwirren? Wie so viele Serienkiller hat auch er in seiner Kindheit Dinge erlebt, die eine kindliche Seele nicht ertragen kann. Stets war er auf der Suche nach einem Weg, die erlebten Demütigungen zu bewältigen. Er wollte es seinem Peiniger irgendwie heimzahlen und tat dies stellvertretend an anderen. So hoffte er die Ich-Schwäche zu vertuschen, die sein Vater
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