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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Frauen mit jungenhafter Figur und schmalen Hüften.»
    «Die Schwester kenne ich nicht.»
    «Sie ist auch nicht mehr da.»
    «Die Geschichte mit der verhungerten Mutter ist also nicht sicher?»
    «Nichts ist sicher, aber alles spricht dafür, dass es tatsächlich so war. Erstens – der Vater Solowjow hat ihn aus einem Waisenhaus in Kiew geholt. Dort haben sie gesagt, Arkadij sei ganz allein und halb verhungert auf einer Dorfstraße im Süden aufgefunden worden. Arkadijs Erinnerungen deuten darauf hin, dass er beim Tod seiner Mutter dabei war, und noch ein paar andere Personen. Theoretisch wäre es auch möglich, dass seine Mutter ihn einfach in einem Vorort von Kiew auf der Straße abgelegt hat, in der Hoffnung, jemand findet ihn und nimmt sich seiner an. Sie selbst könnte auf die Krim abgewandert sein oder sonst wohin, wo es noch etwas zu essen gab. Solche Schicksale gab es hunderttausendfach. Drei Millionen Menschen sind bei dieser Hungersnot gestorben.
    Ich glaube das aber nicht, denn wenn die Mutter ihn einfach abgelegt hat, woher kommt dann seine obsessive Erinnerung, wie sie auf dem Boden liegt? Dabei rastete er immer aus. Als ob ihm gelegentlich eingefallen ist, dass er als kleiner Junge seine Mutter hatte liegen lassen, sie hatte sterben lassen, dass er nicht für sie gekämpft hatte. Da wurde er wild.»
    «Aber kann es nicht sein, dass er diese Geschichten nur gehört hat?»
    «Das kann man ausschließen. Das erste Mal trat so ein Panikanfall bei einer Erinnerung an Olha auf, wie sie in der Küche auf dem Rücken lag. Er tobte, wir mussten ihn festschnallen. Später fiel es milder aus, meist morgens, kurz nach dem Aufwachen. Für mich waren diese Anfälle sehr wertvoll, weil sie unabhängig vom späteren Wissen über seine Mutter etwas über seine Kindheit verrieten. In diesen Anfällen sind die Erinnerungen auf ganz elementare, geradezu körperliche Weise präsent. Ein klares Bild auf der Netzhaut. Das Bild einer hilflosen, auf dem Rücken liegenden Frau. Die Erinnerung wird direkt in Angst umgesetzt, in Adrenalin, was weiß ich. Der Kopf kommt gar nicht dazu, das Bild zu verarbeiten. Mag sein, dass er später einiges über die Hungersnot gelesen hat, vielleicht hat ihm auch Olha was erzählt. Aber Erzähltes wirkt niemals so stark. Er muss es selbst erlebt haben. Der Anblick seiner verhungerten Mutter hat sich in sein Gehirn eingebrannt, und in all den Jahren haben sich andere Bilder darübergelegt.»
    «Darübergelegt», sagte Konrad. «Das erinnert mich an seine Obsession mit den Landkarten. Er hat diese Karten übereinandergelegt, angeblich um Olha zu suchen, aber er ahnte, dass sich noch etwas anderes dahinter verbirgt.»
    «Warten Sie, das sind Spekulationen. Bleiben wir noch bei den Tatsachen. Mit drei Jahren kam er in ein Kinderheim. Mit fünf wurde er von den Solowjows adoptiert. In diesen Jahren hatte er die schlimmen Erlebnisse alle verdrängt. Dann, in seiner Pubertät, kam dieses Kindermädchen. Und nun beachten Sie diese frappierende Ähnlichkeit. Die eigene Mutter, im gleichen Alter wie Olha, knochendürr, mit dem vom Hunger angeschwollenen Bauch, liegt sterbend auf dem Rücken. Ihre Haut knistert wie Pergamentpapier, bewegt sich, als würden kleine Insekten darunter herumlaufen. So hat er es gesagt. Ein paar Jahre später kippt Olha in der Küche um. Nach einem lautstarken Streit mit Svetlana oder Jurij, jemand hat sie geschlagen, vielleicht ist sie auch einfach auf den Fliesen ausgerutscht.»
    «Linoleum», korrigierte Konrad.
    «Bitte?»
    «In der Küche liegt Linoleum.»
    «Ach, Sie waren dort? Jedenfalls liegt sie auf dem Rücken, ebenfalls mit einem dicken Bauch. Aber sie hat kein Hungerödem, sondern ist tatsächlich schwanger, und zwar schon eine ganze Weile.»
    «Was? Olha war schwanger?» Konrad schnappte nach Luft.
    «Ja, wussten Sie das nicht? Deshalb musste sie doch gehen. Arkadij hat es angedeutet, in den Protokollen. Er hat sich sogar eingebildet, er könnte der Vater sein.»
    «Das habe ich nicht gefunden», sagte Konrad. «Vielleicht hat jemand die Stellen herausgenommen. Ihre Toilette ist neben der Küche, ja?»
    In dem fensterlosen Raum war zwischen Waschmaschine und Badewanne gerade genug Platz, um vor der Kloschüssel zu stehen, es war feucht und roch nach Schimmel. Auf der Waschmaschine lagen ein Haufen Einwegspritzen, Medikamentenschachteln und Verbandszeug. Er klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder klar zu werden.
    «Alles in Ordnung?» Guzman hatte ihm

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