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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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einem lebenden Tier Ausschau, konnte aber nichts entdecken. Denn der Sibirische Tiger stand unten im flachen Wasser, er hatte einen mächtigen, breiten Kopf, einen muskulösen Nacken und einen ganz schmalen, männlichen Hintern, durch dessen Haut sich die Hüftknochen abzeichneten. Bei der Hitze des Tages stand er im Wasser, lauernd, aber sein Blick ging nie zu den Besuchern, von denen er tausendmal irritiert und in die Irre geführt worden war, sondern richtete sich majestätisch in ein ungefähres Geradeaus.
    Andere Besucher blieben neben ihm stehen. Konrads Nasenflügel bebten. Ein süßlich-fruchtiges Parfüm wehte ihn von der Seite an und mischte sich anfangs mit dem Geruch des Tigers, um ihn bald zu überdecken. Er wandte den Kopf und erblickte ein junges Mädchen, das seine nackten Ellbogen auf die Eisenstange gelehnt hatte, daneben stand ihr Freund. Sie sah nett aus, die Brüste im Pulli waren rund, sie war insgesamt weich, nett, niedlich – es gibt keine besseren Wörter für solche Wesen, sie kaute auf einem Kaugummi und roch nach diesem russischen Parfüm und war kein Raubtier, sie war einfach nur ein lebenslustiges junges Ding. Es war zum Verzweifeln. Ihretwegen hätte niemand den Verstand verloren. So viele gab es von diesen jungen Mädchen, denen man schon jetzt ansah, wie sie in dreißig Jahren sein würden. Lebenslustig, mollig, leicht verdorben. Begraben die Träume, die sie als junge Mädchen hatten.
    Ihn schwindelte leicht, etwas verschwamm in seinem Kopf, er sah diesen Tiger dort unten im Wasser stehen und fand ihn schön und wild und bekam jetzt beinahe selbst verzehrende Sehnsucht nach jemandem wie Olha. Er wusste nur nicht, wer oder was in seinem Leben diese Stelle besetzt haben könnte. Er ahnte nur, warum Arkadij diese Olha so sehr brauchte. Und darum beneidete er ihn. Es gab nicht viele solcher starker, wilder Menschen auf der Welt. Nach allem, was er aus den Gesprächen wusste, musste es sehr grausam gewesen sein, sie einfach wegzuschicken. Für Arkadij wie auch für Olha selbst. Er dachte an Arkadijs Phantasien von Olha, die in einem Käfig aus Weidenstöckern kauerte. So eine Grausamkeit kann nicht folgenlos bleiben. Sie muss sich rächen. Vielleicht hatte sie Olha selbst grausam gemacht. Und wenn sie ein Kind hatte, war diese Grausamkeit womöglich auf das Kind übergegangen.
    Ein paar Tierarten weiter blieb er am runden Holztisch einer Imbissbude für Eis und Fruchtsäfte stehen und faltete seinen Zettel auseinander. Eine Frau schleckte lustlos an einem Bausch Zuckerwatte, den ihr Kind mit feisten runden Fäustchen zurückgeschoben hatte. Sie schaute ihm ungeniert dabei zu, wie er einen dicken Strich von Olha zu dem neuen Kreis zog, der ihr Kind markierte. Dieser Kreis atmete: Er bezeichnete das Unbekannte, das immer mit der Lösung des Falls zu tun hatte.
    Dieses unbekannte Kind wäre heute ungefähr Ende vierzig.
    Konrad grub in seiner Erinnerung, ob ihm eine Frau oder ein Mann in diesem Alter begegnet war, ohne dass er sie erkannt hätte? Er konnte sich an nichts erinnern.
    Doch etwas anderes fiel ihm auf. Wenn Jurij Solowjow nicht nur Arkadijs Adoptivvater, sondern auch der leibliche Vater von Olhas Kind war, geriet sozusagen die bisherige sittliche Ordnung der Zeichnung ins Wanken. Bislang hatten Olha und Arkadij in einer Reihe gestanden, waren quasi wie Geschwister gewesen. Schon diese Erkenntnis hatte Konrad unangenehm berührt. Doch mit der Schwangerschaft bekam Arkadijs Anhänglichkeit einen erotischen Unterton. Wie er sich an ihrem Achselgeruch berauschte, durch vorgetäuscht ungeschickte Bewegungen ihre Nähe suchte. Das alles war schon verdorben. Auch wenn Jurij Solowjow der Vater von Olhas Kind wäre, besserte sich dadurch nichts. Sie würde dann so etwas wie seine Frau werden. Und Arkadijs Zuneigung hätte der eigenen Mutter gegolten.
    Konrad konnte sich nicht mehr konzentrieren. Er verstand nicht, was das alles bedeutete und welche Rolle das Auto hier noch spielen sollte.
    Als er den Zoo durch die Spindeltür verlassen hatte, stellte er sich am Rand der breiten Straße hinter ein Auto, dessen Fahrer auf dem flachgestellten Sitz lag, während er den Motor laufen ließ. Konrad inhalierte mehrmals tief die Abgase. Es half nichts. Unruhe und Denkstarre blieben, nur ein stechender Kopfschmerz kam hinzu. Er fühlte sich zu schwach für weitere Diskussionen mit Professor Guzman und wollte ihn an diesem Nachmittag nicht mehr behelligen.

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