Der wahre Sohn
dachte ich, Sie meinen wirklich nur ein Auto. Egal. Mir ist klargeworden, wo Sie suchen müssen.»
«Ach, sagen Sie.»
«Ja. Sie suchen das Auto, ich suche Olha.»
Konrad machte eine ratlose Geste und ließ die Hand wieder fallen.
«Wollen Sie jetzt sagen, das sei ein und dasselbe?»
«Jedenfalls hängt es eng miteinander zusammen.»
«Na, ich finde, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht», sagte Konrad.
Arkadij lächelte.
«Überlegen Sie es sich», sagte er zum Abschied. «Und lassen Sie mich nicht wieder so lange warten. Ich sehe doch, wie Sie sich quälen. Treffen Sie eine Entscheidung, sonst rast der Zug der Zeit über Sie hinweg. Gorbatschow, wissen Sie doch. Jetzt, da mein Vater tot ist, brauchen wir keine Angst mehr zu haben. Ach, und hier, damit Sie nicht so traurig sind», schloss Arkadij und zog ein unförmiges Paket hinter dem Bett hervor.
Konrad wickelte das steife, braune Packpapier auseinander und fand darin ein klobiges Auto, zusammengeleimt aus Sperrholzteilen. Vier Holzräder drehten sich an zwei dicken Achsnägeln, auch die Fenster waren ausgesägt und mit Plastikfolie bespannt. Als Scheinwerfer dienten Limonadeflaschenkapseln, eine rot, die andere grün. Konrad nahm den Wagen in beide Hände, hob ihn hoch und versuchte, etwas im Inneren zu erkennen. Da waren keine Sitze, kein Lenkrad.
«Das ist aber schön. Danke!»
«Ich dachte, wenn Sie schon das richtige nicht finden …»
«Wie geht es Ihrer Frau?», fragte Konrad Guzman am anderen Tag.
«Besser. Sie hat sich gestern rasch wieder beruhigt. Ich hatte eigentlich noch mit Ihnen gerechnet.»
«Tut mir leid. Ich dachte, ich lasse Sie besser erst mal in Ruhe.»
Im Wohnzimmer fragte er: «Sagen Sie, wie würde sich Arkadij benehmen, wenn er rauskäme? Könnte er gewalttätig werden?»
«Unwahrscheinlich. In einer euphorischen Phase entwickelt er großen Tatendrang, dann können Sie ihn nicht mehr steuern. Aber gefährlich wird er nicht. Sagen wir mal so, aus der Anstalt herauswagen wird er sich überhaupt nur dann, wenn er euphorisch ist. Hauptsache, er setzt seine Medikamente nicht ab. Aber er käme ja gar nicht raus.»
«Wieso nicht?»
«Wo sollte er hin? Seine Mutter will ihn nicht bei sich haben. Überhaupt hasst er sie, als einzige Person auf der Welt. Als wir so weit waren, dass er sich an seine Gefühle als Sechzehn- oder Siebzehnjähriger erinnerte, richtete sich seine Wut erstaunlicherweise nicht gegen den Vater, obwohl der Olha mit einer List aus dem Haus geschafft hat, sondern gegen Svetlana. Er schluchzte, brüllte, schlug um sich. Wir mussten ihm Beruhigungsmittel geben. Der positive Effekt der Erinnerung war, dass sie ihn aus der Depression herausholte. Das Wolkig-Unklare, dieser neblige, unbestimmte Blick, das war vertrieben.»
«So ist es ja heute auch», warf Konrad ein.
«Gut möglich. Die depressiven Phasen waren kürzer und verliefen weniger schwer. Wenn er euphorisch war, tobte er nicht mehr unbändig, er wollte nur los, Olha suchen. Einmal ist er uns entwischt. Er stieg im Schlafanzug in den Trolleybus und kam bis zum Bahnhof.»
«Haben Sie nicht mal daran gedacht, diese Olha ausfindig zu machen? Vielleicht hätte ihm das geholfen.»
«Deutsche Romantik. Nein, es ist nicht der Sinn einer Psychotherapie, Partnerschaften zu stiften oder Menschen zusammenzuführen. Wir wussten ja nicht mal, wo sie lebt, oder ob sie überhaupt noch am Leben war. Wir hatten noch nicht mal ihren Nachnamen. Arkadijs Problem war und ist ja eigentlich nicht Olha.»
«Sondern?»
«Eine solche Bezugsperson ist im Grunde austauschbar. Olha hat ihn an seine Mutter erinnert. Sie war ein Ersatz. Vielleicht ähnelten sich die beiden, von der Stimme, vom Geruch her, vielleicht war es auch die offene, zärtliche Art des Kindermädchens.»
Guzman summte ein Lied:
« В вишневім саду я тобі коня пасла.
Ой пасла, пасла – звечора до півночі ,
Упала роса на мої карі очі .»
«Kennen Sie das?»
Konrad schüttelte den Kopf.
«Das hat sie ihm beigebracht. Er hat es mir vorgesungen.»
«Im Kirschgarten habe ich dir das Pferd geweidet», übersetzte Konrad sich lautlos. «Geweidet, oj, geweidet – am Abend bis zur Mitternacht. Und auf meine haselbraunen Augen fiel der Tau.»
«Arkadij selbst hat irgendwann, erstaunlich klug, gesagt: Wenn man zu lange Sehnsucht nach etwas gehabt hat, lässt sich diese Sehnsucht durch nichts mehr stillen. Das steht
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