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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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irgendwo in den Protokollen.»
    «Heilen», sagte Konrad, «heilen hat er gesagt.»
    «Mag sein. Jedenfalls würde es ihm nicht helfen, wenn man ihm Olha zurückgibt. Da ist nichts mehr zu heilen.»
    «Und die Mutter könnte ihm auch nicht mehr helfen?»
    «Nein. So eine Lücke ist nicht mehr zu schließen. Wenn man so viele Jahre lang Sehnsucht nach einem Menschen gehabt hat, dann ist dieser Mensch, wenn er leibhaftig auftaucht, überhaupt nicht mehr imstande, die Erwartung zu erfüllen. Das ist so wie … Entschuldigen Sie, ich musste an meine ältere Schwester denken. Sie war achtzehn und ist in Babij Jar ermordet worden. Ich weiß nicht, wie sie gestorben ist. Es gab keine Überlebenden aus ihrem Transport. Was ich sagen wollte: Diese Lücke wird irgendwann Bestandteil des eigenen Lebens.»
    «Das tut mir leid.»
    «Würde es mir helfen, wenn sie auf einmal wieder da wäre? Vielleicht habe ich Angst vor der bloßen Möglichkeit. Manchmal kommen einem solche plötzlichen Gedanken, die näherer Betrachtung dann nicht standhalten.»
    «Oder einen ganz anderen Grund haben.»
    Guzman sah ihn an.
    «Wenn Ihre Schwester ermordet wurde, wie haben Sie überlebt?»
    «Ich war die ganze Besatzungszeit über in einem Keller in Kiew versteckt, bei Freunden der Familie.»
    «Haben Sie noch Erinnerungen an diese Zeit?»
    «Sehr verschwommen. Ein dunkler Keller, der muffige Geruch, die gemauerten Gänge und Holzverschläge. Irgendwo tropfte es die ganze Zeit. Einmal am Tag brachte man mir Essen. Jedes Mal, wenn sich der Schlüssel im Vorhängeschloss drehte, hatte ich Angst, da könnte jemand anders kommen, ein Deutscher oder ein ukrainischer Hilfspolizist. Viel mehr weiß ich nicht. Alles, was draußen passierte, haben mir Verwandte, die auch überlebten, erzählt. Wie die Juden durch die Straßen getrieben wurden. Die Deutschen hatten einen Aufruf gemacht, alle Juden mussten sich an einem Morgen an der Melnikowa-, Ecke Degtjarioska-Straße einfinden. Auf Nichterscheinen stand die Todesstrafe. Aber auch das Plündern der verlassenen Wohnungen stand unter Strafe. Entweder war das deutsche Gründlichkeit oder ein Trick, um die Betroffenen in Sicherheit zu wiegen. Als dann die endlose Schlange die Melnikowa entlangzog, standen viele Ukrainer in den Hauseingängen oder saßen an den Fenstern und schauten zu. Manche sollen gejohlt und gepfiffen haben. Wozu schleppt ihr euch ab, haben sie die Leute mit ihren Koffern und Paketen ausgelacht. Ihr zieht doch in den Tod. Viele glaubten tatsächlich, sie würden nur zum Bahnhof gebracht, um mit dem Zug an einen neuen Siedlungsort zu kommen. Manche Anwohner sollen in die Prozession hineingerannt sein und sich einen Koffer geschnappt haben. Die deutschen Wachketten sahen zu.»
    Er schwieg. Auch Konrad sagte eine Weile nichts.
    «Wie konnten Sie nach dem Krieg in so einer Stadt leben, mit diesen Menschen?»
    «Sie leben ja sogar in Deutschland.»
    Das Rasseln wurde lauter. Guzman lächelte und ging in das hintere Zimmer.
     
    «Ich war nur einmal in Berlin», rief er, als er zurück war und sich im Bad die Hände wusch, gründlich und lange. «In den siebziger Jahren auf einem Kongress. Wie ist es heute dort?»
    «Alles ein bisschen größer geworden», sagte Konrad.
    Wieder im Wohnzimmer, hob Guzman die Teekanne und schenkte ihm nach.
    «Erzählen Sie doch mal, wie Sie auf diesen Fall kommen. Ich schwatze hier unbekümmert vor mich hin, dabei weiß ich nicht einmal, was Sie eigentlich suchen.»
    Konrad begriff, dass er jetzt nicht wieder mit dem Auto anfangen konnte. Dazu hatte er zu viel Respekt vor diesem Mann. Guzman war viel älter als Prokoptschuk, aber das war nicht der Grund. Er war einfach neugieriger und empfänglicher als der junge Psychiater, er konnte noch staunen, er litt nicht an dem falschen Ehrgeiz, alles auf Anhieb verstehen zu müssen. Guzman hörte zu, ohne seine eigene Meinung aufzudrängen. Konrad wollte diesen alten Professor genauso ernst nehmen, wie der die Wirklichkeit ernst nahm.
    «Ich bin eigentlich durch Zufall in diese Geschichte hineingeraten», sagte Konrad.
    Auf den ersten Blick war das nicht einmal gelogen.
    «Zufall?»
    «Schritt für Schritt, ich habe erst gar nicht gemerkt, wie ich hineingezogen wurde. Ich recherchierte in einer ganz anderen Sache, Arkadijs Krankheit war zunächst für mich nur insofern interessant, als sie mich auf eine Spur in diesem anderen Fall bringen konnte. Die meisten wollen das nicht verstehen. Meine Methode, meine ich, ich

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