Der wahre Sohn
arbeite nämlich mit solchen Zeichnungen …»
Er zog den neuesten Zettel aus der Innentasche seines Jacketts.
«Hier, ich sammle unscheinbare Hinweise, die andere übersehen. Hat man so einen Hinweis einmal entdeckt, reicht es, ihn eine Zeitlang zu beobachten. Man achtet nur darauf, was sich da tut, ob sich etwa Dinge wiederholen. Dann verdichtet sich die Bedeutung, plötzlich erkennt man etwas und greift dann zu. Hier, sehen Sie, diese Striche habe ich nachgezogen und verdickt, sie müssen auf etwas Größeres, Handfesteres verweisen. Manchmal zeigen sie leider auch auf ganz Banales», Konrad lachte, «wie ein Auto zum Beispiel, ein gestohlenes. Aber in diesem Fall habe ich mich mit der Zeit so tief in die Sache, in diese Familie verstrickt, in Arkadijs Leben und das seiner Mutter Svetlana, dass ich jetzt nicht mehr weiß, wie ich herauskomme. Ich sehe jedenfalls keinen Ausweg. Vielleicht brauche ich so was wie mein kleines Tschernobyl. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich am Ende. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll. Am Anfang suchte ich nur ein Auto.»
Guzman nickte.
«Irgendwie fängt es immer an.»
Konrad atmete auf. Guzman respektierte ihn. Er zwang ihm keine Erklärung auf, machte keine Vorschriften. Konrad hätte ihm gern erzählt, was Onkel Wolfgang gesagt hatte und was dann mit ihm passiert war. Aber das war eine ganz andere Geschichte. Vielleicht hätte ihm Guzman noch die Schuld daran gegeben.
«Hier sehen Sie, hier ist Olha. Aber wenn sie ein Kind hat, dann gerät die ganze Konstellation ins Ungleichgewicht. In Bewegung. Das ist wie eine kleine Revolution.»
Guzman wandte seinen Blick rasch von der Zeichnung ab.
«Sie erwähnten das Dorf, aus dem das Kindermädchen stammen soll», fragte Konrad, «erinnern Sie sich an den Namen?»
«Nein. Ich weiß auch nicht mehr, in welchem Zusammenhang dieser Name erwähnt worden sein soll.»
«Arkadij behauptet, Olha habe ihn ihm gesagt.»
«Stimmt. Ich habe ihn damals gefragt, wie er diesen Namen vergessen konnte. Er hat ja sonst ein gutes Gedächtnis. Und das ist seltsam. Sein größtes Begehren treibt ihn dort hin, irgendwo in seinem Kopf muss dieser Name aufgehoben sein, aber er will nicht raus. Und das wird einen Grund haben, man vergisst nicht einfach so. Sie sollten ihn mal fragen, was ihm dazu einfällt.»
Das Rasseln im Schlafzimmer wurde wieder lauter, und Konrad fragte: «Wäre es nicht besser, Ihre Frau in ein Krankenhaus zu bringen? Vielleicht kann man ihr dort helfen?»
«Wo denken Sie hin. In den Krankenhäusern herrschen heute katastrophale Zustände. Jede Kleinigkeit muss man selbst bezahlen, Spritzen, Verbandsmaterial, jeden Handgriff der Schwester, von den Ärzten ganz zu schweigen. Und medizinisch ist ihr schon lange nicht mehr zu helfen. Ich muss mich damit abfinden. Wir hatten ein gutes Leben.»
Da war kein Zucken in seinem Gesicht, kein Selbstmitleid.
«Es muss schwer für Sie ein. Wie lange waren Sie zusammen?»
«Fünfunddreißig Jahre.»
«Ganz schöne Zeit.»
«Ja, manchmal war es wirklich schön.»
Guzman schwieg und fragte erst, als das Schweigen zu lange dauerte:
«Haben Sie eine Lebensgefährtin?»
Konrad zögerte.
«Sie hat … Ich habe sie verlassen. Vor einigen Tagen, nein, jetzt sind es schon», er blickte blödsinnig auf seine Armbanduhr, «mehrere Wochen. Ist das jetzt her.»
Guzman nickte ruhig. «Warum haben Sie das getan?»
«Sie hat mich nicht verstanden. Man müsste herausbekommen, was Arkadij an der Erinnerung hindert. Liegt es an dem Ortsnamen selbst, am Klang? Verbindet er unangenehme Erinnerungen damit?»
«Genau das ist die Frage. Aber erzählen Sie mir doch noch von Ihrer Freundin.»
«Ach, sie hat meine Arbeit nicht geschätzt. Mich insgesamt nicht. Sie war nie zufrieden, sie wollte immer, dass ich etwas Besseres finde. Und gleichzeitig hat sie die Sanfte und Geduldige gespielt und mir ein schlechtes Gewissen eingeimpft. Hat getan, als wäre es ihre heroische Pflicht, einen Schlappschwanz wie mich durchs Leben zu schleppen. Früher wollte sie die ganze Welt retten, dann hat sie quasi mich als exemplarisch Beleidigten und Erniedrigten, als einzigen von allen Verdammten dieser Erde, der ihr noch geblieben ist. Statt die Welt zu verändern, versucht sie sich im Kleinen. In ihrem Kreuzberger Biotop. Graswurzelarbeit nennt sie das. Tauschwirtschaft, Nachbarschaftshilfe, sie stricken sich gegenseitig Schals und Mützen und glauben, dass das gegen die großen Konzerne hilft. Ihre
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