Der wahre Sohn
hingeführt. Meine Erinnerung war ja völlig verschüttet. Er hat all das immer wieder mit mir durchgesprochen, bis mir bestimmte Sachen wieder einfielen.»
«Und wo ist dieser Bruder heute?»
«Weg. Vermutlich schon als kleiner Junge gestorben.»
«Vielleicht auch nicht. Könnte dieser Bruder nicht der böse Mann sein, der Ihren Vater töten wollte?»
Er war gespannt auf die Reaktion.
Arkadij schüttelte erschrocken den Kopf.
«Aber ganz sicher sind Sie nicht, oder? Ist es möglich, dass Ihre Eltern Ihnen die Existenz dieses Bruders verheimlicht haben? Und dass er noch lebt?»
«Nein. Sie konnten davon nichts wissen. Er muss längst tot sein.»
«Haben Sie das Dr. Prohorily erzählt?»
«Der glaubt mir sowieso nicht. Seit Professor Guzman weg ist, habe ich hier keinen vernünftigen Gesprächspartner mehr. Ich nehme die die ganze Zeit nur auf den Arm.»
«Danke, mehr wollte ich für den Augenblick nicht wissen.»
«Was ist mit unserer Reise?», fragte Arkadij in einem anderen, leisen Ton.
«Ich gebe Ihnen Bescheid.»
«Sagen Sie Svetlana nichts. Sie wird Ihnen nur Angst machen. Sie will immer alles verbieten.»
Bei Svetlana gab es Piroggen mit Pilzen. Sie tat ihm auf.
«Also, Ihr Sohn überrascht mich jedes Mal aufs Neue.»
«Was hat er jetzt wieder erzählt?»
Ihre Hand mit der Schöpfkelle zitterte.
«Ich weiß, Sie werden gleich wieder sagen, er ist verrückt. Dabei wird er eigentlich immer klarer im Kopf.»
«Sie sind ja naiv. Sie lassen sich täuschen. Ich habe diese angebliche Klarheit oft genug erlebt. Ein Strohfeuer. Das ist immer so vor einer euphorischen Phase. Er redet plötzlich enorm viel, stimmt’s? Und am Anfang klingt sogar alles ganz überzeugend.»
«Ja, er hat heute Vormittag sehr vernünftig erklärt, dass er einen Bruder gehabt hat.»
Svetlana wurde blass. Konrad war verwundert über diese Reaktion.
«Hatte er denn einen?»
«Einen Bruder? Nein, um Gottes willen.»
«Wie kommt er dann darauf?»
«Ich sage Ihnen doch, er denkt sich solche Sachen aus. Er war unser einziges Kind!»
Sie bebte geradezu. Diese weibliche Erregtheit war beeindruckend, sie irritierte ihn, aber er blickte sie fest an, sie konnte ihn nicht von seinem Gedanken abbringen.
«Verzeihen Sie, aber Sie werden verstehen, wenn ich Ihnen das nicht ohne weiteres abnehme.»
«Aber es ist wahr!»
«Sie haben mir schon zu viel verheimlicht. Sie rücken nur scheibchenweise mit der Wahrheit heraus, immer erst, wenn ich es sowieso schon weiß. Die Adoption zum Beispiel. Wenn Sie endlich zugeben würden, was hier los ist!»
Konrad dämpfte seine Stimme, als horchten die Nachbarn an der Wand. «Dann könnte ich meine Ermittlungen einstellen und nach Hause fahren. Glauben Sie, ich bin wild darauf, in schmutzige Familienangelegenheiten hineingezogen zu werden?»
«Schmutzig?»
Svetlanas Mund stand reglos offen. Dann presste sie die Lippen aufeinander, löste sie wieder und fuhr mit der Zunge darüber. Sie stand auf und ging ans Spülbecken. Stellte das Wasser an und nahm etwas in die Hand. Wusch es. Fast mit Gewalt. Stellte ein Glas zum Abtropfen hin, trocknete es mit dem Geschirrtuch und nahm es gleich darauf wieder zur Hand, um es erneut zu spülen.
«Entschuldigen Sie bitte, so war das nicht gemeint. Schmutzig bin ich ja vielmehr selbst, weil ich in Ihren Angelegenheiten herumwühle. Mich geht das alles im Grunde ja nichts an. Aber Sie lassen mir keine andere Wahl. Ein Wort von Ihnen, wo der Mercedes sein könnte und wer dahintersteckt, und Sie sehen mich nie wieder. Könnte dieser Bruder nicht den Wagen haben? Oder vielleicht ein Onkel? Ein Freund Ihres Mannes? Irgendjemanden muss es da doch noch geben.»
«Ich sage Ihnen nur eins: Einen Bruder gibt es nicht.»
In diesem Augenblick zerbrach ihr das Glas zwischen den Fingern. Die Scherben fielen ins Waschbecken. Sie hob einen Finger an den Mund, schwarzes Blut tropfte herab.
«Sehen Sie!», rief sie ärgerlich.
Es war unerträglich schwül, geradezu unnatürlich. Als würde die Hitze des Reaktors bis hierher ausstrahlen, als würde seine zwar einbetonierte, aber ungebändigte Glut das ganze Land aufheizen.
Svetlana hatte ein Pflaster aus der Küchenschublade gezogen. Dann setzte sie sich wieder, spießte noch eine weiße Pirogge auf die Gabel und schob sie in den Mund. Sie kaute eine Weile wortlos. Der Mund wollte gar nichts mehr, aber er musste; was noch da war, musste weg. Sie kaute lange und wurde in diesem gründlichen Kauen ganz alt, dann
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