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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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bleibt dann vielleicht der unendlich kleine Rest, der ich bin. Ein unendlich kleiner Rest, so viel ist sicher. Ich war nie gut in Mathe, aber es hat sicher was mit Infinitesimal- oder Differenzialrechnung zu tun. Also, wenn man alles von mir abzieht, was nicht Ich ist, bleibt ein winziges Teilchen zurück, geschätzt ein halber Millimeter. Ach, was rede ich, noch viel, viel weniger, unendlich viel weniger. Auf jeden Fall kleiner als ein Embryo.»
    Konrad versuchte, mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger die Größe dieses winzigen, ungeborenen Wesens zu ertasten. Dann ließ er das Kügelchen in seine Handfläche rollen und hielt sie Guzman hin. Im Licht des späten Nachmittags, das durch die graue Gardine ins Zimmer fiel, sah man die drei tiefen Linien, die in der Handfläche aufeinander zuliefen. Konrad zitterte nicht. Nach einer Weile zog er seinen leeren Handteller beschämt zurück.
    «Sie sagten vorhin, da sei etwas passiert», sagte Guzman. «In Berlin.»
    «Ja. Das wollte ich Sie auch fragen. Also, rein theoretisch. Stellen Sie sich vor, eine Schwester und ihr Bruder, beide noch sehr jung. Sie haben eine ungewöhnlich innige Beziehung, weil ihre Eltern früh gestorben sind, als sie noch Kinder waren. Kaum Verwandte, sie haben niemanden als sich selbst. Irgendwann merkt der Junge, dass er sich von anderen Jungs angezogen fühlt. Er geht als Soldat nach Russland und kommt traumatisiert zurück. Die Schwester pflegt ihn gewissermaßen. Ist es denkbar, dass diese Schwester ihm helfen will? Dass sie ihn von den Vorzügen der Frau überzeugen und von seiner Neigung abbringen will?»
    «Sie meinen, ihn verführen?»
    «Das weiß ich nicht genau.»
    «Möglich ist alles. Natürlich wäre es aussichtslos, auch wenn die Schwester es gut gemeint hat. Aber ich glaube nicht, dass eine Frau so etwas aus Nächstenliebe, für ihn, tut. Vermutlich stecken andere Motive dahinter, vielleicht fürchtete sie, ihn zu verlieren.»
    Konrad nickte.
    Guzman rieb sich Kinn und Lippen.
    «Viel Glück bei Ihren Ermittlungen. Sie werden Erfolg haben, schon deshalb, weil Sie Arkadij so ähnlich sind», prophezeite er.
    «Wollen Sie sagen, dass ich verrückt bin?»
    «Nein, gar nicht. Ich beobachte nur, und die Ähnlichkeit ist verblüffend. Nicht äußerlich, aber in Ihrer Art zu sprechen, zu denken. Wie lange beschäftigen Sie sich jetzt schon mit unserem Patienten?»
    «Mehrere Wochen, glaube ich.»
    «Hatten Sie in der letzten Zeit das Gefühl, dass Erinnerungen an Ihre Kindheit wieder in Ihnen hochkommen? Dinge, die Sie lange nicht mehr gewusst haben?»
    «Ja. Sogar einzelne Wörter. Bollerwagen, zum Beispiel.»

[zur Inhaltsübersicht]
    Zwölf
    «Haben Sie etwas zum Waschen?», rief Svetlana aus dem Flur.
    Konrad griff nach einem Hemd, das seit Tagen in der Ecke lag. Als er in die Brusttasche fasste, fand er das verlorene Blatt, die letzte Konstellation. Sie war vielleicht zwei, drei Tage alt. Er hatte alles noch in Erinnerung. Nur eine Figur war ihm inzwischen entfallen, obwohl er sie auf dem Zettel sogar mit einem Ausrufezeichen versehen hatte: der Bruder. Arkadij hatte in der Küchenszene einen großen Bruder erwähnt. Aber Olhas Kind musste viel jünger sein als er selbst. Er wollte ihn noch einmal danach fragen.
     
    Er hatte Arkadij nie gestanden, dass er seine Protokolle las. Die heimliche Kenntnis dieser Erinnerungen, die Arkadij selbst im Normalzustand, ohne die Droge, verschlossen waren, bot einen großen taktischen Vorteil. Wenn Konrad nicht weiterkam, konnte er diese zwei Arkadijs miteinander ins Gespräch bringen, sie notfalls auch gegeneinander ausspielen.
    «Haben Sie sich entschieden?»
    «Noch nicht. Aber was ich fragen wollte: Sie haben neulich einen Bruder erwähnt.»
    «Einen Bruder? Nicht dass ich wüsste.»
    «Doch, Sie haben beiläufig fallenlassen, dass Sie einen Bruder hatten. Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang. Was könnten Sie damit gemeint haben?»
    «Ich erinnere mich nicht, Ihnen je etwas davon gesagt zu haben.»
    «Ist ja auch egal. Dann frage ich so: Hatten Sie einen älteren Bruder?»
    «Ja, schon. Aber davon habe ich Ihnen nie erzählt. Er war dabei. Als unsere Mutter verhungert ist.»
    «Sie meinen Ihre leibliche Mutter, nicht Svetlana.»
    «Ich habe lange gebraucht, um das herauszufinden. Alle haben versucht, es vor mir zu verheimlichen. Professor Guzman hat mir geholfen, mich zu erinnern. Er hat mir erklärt, dass meine Mutter an Hunger gestorben ist.»
    «Erklärt?»
    «Er hat mich darauf

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