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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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nicht verstehen, sie war hier und doch woanders. Die wortlosen Blickwechsel der vergangenen Wochen hatten eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt. Etwas, das für sie wichtig war. Auch für ihn. Arkadij rutschte auf den Stufen aus, er musste ihn rasch festhalten. Es tat ihm weh, sie hier zu lassen. Sie konnte nicht wissen, dass es für immer war. Und plötzlich fasste er einen Beschluss. Er durfte den Fehler mit der Frau von den Pferden nicht noch einmal machen. Und er wurde ganz fröhlich – er würde am Ende zurückkommen und sie hier herausholen.
    «Ich komme wieder», rief er ihr zu.
    Er musste jetzt Arkadij an der Hand nehmen, damit er auf der steilen Treppe nicht noch einmal ausglitt. Schneller, schneller, hätte er gern gedrängt. Aber Arkadij konnte nicht schneller, und sie durften kein Aufsehen verursachen.
    «Arkadij!», rief eine Frauenstimme, als sie halb unten waren. Eine Gestalt mit Kopftuch, Rock und Strickjacke kam ihnen entgegen. Auch das noch.
    «Wir fahren seine Mutter besuchen», erklärte Konrad.
    «Ich komme mit!», rief die Frau.
    «Das geht nicht!», rief Konrad und zog Arkadij weiter. Die Frau ließ sich nicht beeindrucken.
    «Ich hole nur schnell meine Sachen», rief sie und eilte die Treppen hoch.
    Die Hose war zu groß und fiel komisch, vermutlich lag die knielange Baumwollunterhose falsch. In der linken Hand hielt Arkadij eine weiße Plastiktüte, durch die sich scharfe Kanten abzeichneten und die ihn endgültig zur ältlichen Witzfigur machte. Konrad ging voran, falls Arkadij ausrutschen würde. Als er sich umdrehte und den alten Mann die Treppe heruntersteigen sah, die eine Hand am schrundigen grünen Geländer, im schlotternden Anzug, mit diesem selig unsicheren Lächeln auf dem Gesicht, war er ein kleiner Junge. Ein Junge, so alt und so dünn, dass er ihm die Treppe hinabhelfen musste.
    Er fühlte sich in eine Zeit versetzt, als er selbst so ein kleiner Junge war.
    Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, da war diese Frau zu ihm gekommen, als er im Sandkasten spielte. Verlegen hatte sie dagestanden und nicht gewusst, wie sie es anstellen sollte, wie man ein Kind begrüßt. Sogar er, ihr Sohn, begriff damals, dass sie einfach keine Ahnung hatte, wie man mit einem Kind umgeht. Sie stand unsicher da und schwankte leicht, eine Hand hinter dem Rücken versteckt. In der Erinnerung trat ihm wieder der Ausdruck des Jungen aufs Gesicht, der er selbst gewesen war, ganz entwaffnet nach dem ersten Schrecken, und er lächelte ein zartes, vorsichtiges, unsicheres Lächeln, das war wie ein Senfkorn – alles hätte aus ihm werden können, es war zu allem bereit und hätte aufblühen können zur größten Liebe der Welt, wäre da der Vater nicht dazwischengekommen …
    Als die Mutter ihn sah, brach etwas in ihrem Gesicht. Es bekam Risse, gerade, dass es noch nicht in seine Einzelteile zerfiel. Mit letzter Kraft streckte die Mutter ihre gläserne Hand nach ihm aus, doch bevor sie seinen Kopf berührte, drehte sie sich um und lief weg. Das, was sie in der anderen Hand hielt, ließ sie fallen.
    Ein grünes Krokodil. Es hatte eine lange Schnauze und einen Oberkörper aus weichem Gummi, darunter war ein grünes Röckchen festgebunden, durch das man in den Krokodilskörper hineingreifen konnte. Eine Kasperlefigur. Er hob es auf und drückte es an seine Brust. Der Vater riss es ihm aus der Hand.
    Er nahm Arkadij an die Hand und führte ihn vorsichtig weiter. Diesen kleinen Jungen konnte er auf keinen Fall allein zurücklassen. Konrad wäre sonst nie wieder glücklich geworden. Dieser Junge sollte stark sein, schön sollte sein Leben werden. Jedes Leben kann man am Ende schönmachen, durch eine einzige Tat. All seine bunten, phantastischen Ideen sollten nicht einfach in sich zusammenfallen und vergeblich gewesen sein. Und wenn er körperlich schon schwach wurde und dies jetzt sein letztes Fest war, dann sollte es rauschhaft und großartig werden.
    Er liebte diesen kleinen Jungen wie sich selbst. Als er seine Hand losließ und sich wieder umdrehte, verschnaufte hinter ihm der alte Mann, mit dem er seit Wochen im Gespräch war. Er war aus der Puste, sie mussten eine Pause machen.
     
    «Als Kind konnte man noch alles umwerfen, nicht?», hörte er Onkel Wolfgang sagen.
    Und als Konrad fragend guckte: «Wenn man verloren hat, meine ich.»
    «Versteh ich nicht.»
    «Tu nicht so», er drohte mit dem Finger. «Was meinst du, wie jähzornig du warst. Wenn ich gewann, hast du alle

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