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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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nicht erfasst von den Radartürmen, die unsichtbar unter den aufgeblasenen weißen Riesenpräservativen kreisten, langsam und sicher, als wollten sie demonstrieren, dass ihnen ohnehin niemand entkam.
    Wie gebannt starrten sie auf den unsichtbaren Feind im Osten, hinter den Nebelbänken der Elbe. Arkadij machten sie damals nicht ausfindig. Der fuhr da noch jeden Morgen in sein Stahlwerk, aß in der Kantine und fütterte die Computer. Arkadij war noch unauffällig, wie man das nennt, die Familie Solowjow galt als wohlangesehen in der sowjetischen Hierarchie Kiews, und niemand brauchte sich über irgendetwas zu wundern. In Berlin hätte man nichts von ihnen erfahren, keine Lektüre der Izvestija oder Pravda hätte den geringsten Hinweis ergeben. Man wusste so vieles nicht.
    Es gibt Augenblicke, die dehnen sich wie eine Ewigkeit. Jetzt zum Beispiel, als er beim Wegrennen auf ihren Schrei wartete. Jeden Moment konnte sie wieder Luft holen, würde pfeifend und panisch der Atem in ihre Lungen ziehen. Doch er hatte keine Angst mehr. Er war nur noch Fluchttier, das Herz schlug die Angst, nur noch Hitze, der ganze Körper war heiß. Jede Fiber rief: Du kannst dich bewegen. Also lauf! Stürz die Treppe hinab, stoß die Haustür auf, und du wirst sehen: Du reißt ein Loch in die Hülle der Zeit.
    Unten blieb er stehen, geblendet im Tageslicht. Rasch ging er nach rechts in die Artjomstraße zum offenen Lada. Er warf seine Reisetasche auf den Rücksitz, führte den Grosz in den Schlitz des Zündschlosses, drehte ihn nach rechts. Der Motor sprang an.
     
    Fast zu Konrads Glück war Stau auf der Peremohystraße, er wäre sonst viel zu schnell gefahren und sofort angehalten worden. Schon vom Platz des Sieges aus, neben dem Kuppelbau des alten Zirkus, sah er das Blaulicht vor dem Haus von Professor Guzman. Vielleicht hatte seine Frau wieder eine Krise und musste ins Krankenhaus. Vielleicht war jemand anders aus dem Haus verletzt oder gestorben.
    Viel zu spät erreichte er den Treffpunkt an der Telihastraße. Er ließ den Motor laufen und suchte mit dem Blick das Gelände ab, stieg dann aus und ging ein paar Schritte auf die Wiese. Arkadij war nirgends zu sehen. Verflucht. Er wartete weitere wertvolle Minuten. Es war zu riskant, den Wagen unabgeschlossen stehen zu lassen. Aber ihm blieb keine Wahl, er stellte den Motor ab und stieg die Treppe zur Klinik hoch. Tatsächlich war Arkadij im Park, er stand mit ein paar Insassen und Pflegern am Holztisch und beugte sich konzentriert über das Schachbrett. Er trug den glänzenden grauen Anzug, den Konrad ihm für die Flucht mitgebracht hatte. Er war viel zu groß, hing an ihm herunter, und die Hose war zu lang.
    Konrad ging auf die Gruppe zu und trat an Arkadij heran.
    «Wir wollten doch zu Mutter fahren», sagte er bemüht ruhig, aber sein Herzschlag zerhackte die Worte, er konnte seine Aufregung nicht verbergen. Jetzt keinen Fehler machen, sich nichts anmerken lassen. Arkadij wegbringen, bevor Prokoptschuk oder ein anderer Arzt auf sie aufmerksam wurde. Arkadij schien seine Panik nicht zu spüren, jedenfalls blieb er sanft, ließ sich am Arm fassen und von dem Tisch wegführen. Konrad hatte das Gefühl, ihn ziehen zu müssen, so kraftlos und langsam bewegte er sich.
    «Ich habe eine Stunde unten gestanden», erklärte Arkadij. «Hier oben haben sie die ganze Zeit auf meinen Zug gewartet, sie waren schon böse auf mich, ich musste wieder zurück.»
    «Tut mir leid. Ich hatte noch was mit deiner Mutter zu besprechen.»
    «Springer schachmatt», rief es hinter ihnen, und jemand grölte vor Lachen, als hätte er feinen Grieß in der Kehle.
     
    «Mann, gebt eine Zigarette!»
    Konrad tat die paar Schritte zu dem Erdgeschossfenster und reichte dem Wesen hinter dem Gitter, von dem er nicht wusste, ob es immer ein und dasselbe gewesen war oder ob dort mehrere Frauen warteten, alle mit der gleichen rauen Stimme, die Schachtel filterlose Prima, die er gekauft hatte. Eine Hand griff gierig und ungenau danach und streifte ihn mit rauen Fingern.
    Als er sich umblickte, stand das Mädchen mit den kurzen schwarzen Haaren da. Sie sah interessiert zu, wie er die Zigaretten durchs Gitter reichte, als wäre sie unsichtbar. Als glaubte sie, sich die Wirklichkeit wie einen Film anschauen zu können, in dem sie selbst nicht vorkam. Als er mit Arkadij die ersten Stufen der Treppe betrat, blieb sie stehen. Er drehte sich um, sie schaute ihm nach, ohne Angst. In diesen wenigen Sekunden konnte er ihren Ausdruck

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