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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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drückte, als feiner Ring um seinen Schädel. Fein wie ein Draht. Etwas drohte sich da abzulösen und gleich in die Luft zu fliegen. Hier stand diese weibliche, schwache Person, die ihm Zuneigung, ja Mütterlichkeit anbot und dennoch nicht verbergen konnte, dass sie ihn im nächsten Augenblick umbringen würde. Er wusste nicht, wie er diese beiden Eindrücke verbinden sollte.
    Von seiner Schläfe fuhr sie mit zwei Fingern über die Wange nach unten, sehr sanft, und hielt an seinem Mund inne. Er hätte kaum sagen können, ob sie seine Haut überhaupt berührte.
    «Die gleichen Lippen wie Helmut», sagte sie.
    Es ist unhöflich, eine alte Frau, die mit Mühe ihre Gefühle zu zeigen versucht, einfach wegzuschieben. Er schubste sie sanft. Er hatte keine Zeit mehr. In einer Stunde war er mit Arkadij an der Klinik verabredet.
    Sie fing sich, ging in die Küche und sah den weißen Umschlag auf dem Tisch.
    «Ah, einen Abschiedsbrief hat er mir geschrieben. Wer weiß, vielleicht wollte er sogar großzügig sein und einen Geldschein hinterlassen? Wissen Sie nicht, dass mir das völlig egal ist? Dass ich es hasse, wenn man mich bezahlen will? Wenn man sich freikaufen will? Ich brauche kein Geld, ich brauche etwas anderes.»
    Zynisch und böse.
    «Helmut damals auch. Ist einfach gegangen und hat mich hier in der Hölle zurückgelassen. Alle wussten Bescheid, die Nachbarn hatten ihn gesehen. Er hatte versprochen, mich nach dem Sieg mitzunehmen. Dann kam mein Mann nach Hause und hat mit dieser Hure …»
    Der Helmut mit der Kuckucksuhr?
    «Er hatte dieses Kind am Hals und traute sich nicht, mich wegzuschicken. Er hat alles erduldet. Jurij war ein Schlappschwanz.»
    Sie war außer sich.
    Helmut. Die erste Person, die ihn nicht mehr interessierte, nicht im Geringsten. Ihm würde er ganz sicher nicht die Ehre erweisen, ihn in seine Konstellation aufzunehmen. Ein kreuzbraver bayerischer oder sächsischer Unteroffizier, ein Lehramtsanwärter oder Schuhmacher, den es mit der Wehrmacht nach Kiew verschlagen hatte, der mit einer jungen Russin geflirtet und versucht hatte, ihr die deutsche Romantik nahezubringen. Der mit seinem Gerede von Seelenverwandtschaft ihr Vertrauen und ihr Bett zu gewinnen versucht hatte. Aber Vorsicht, man musste ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Vielleicht war er romantisch und hat aufrichtig an alles geglaubt. So einen brauchte er nicht auf seinem Zettel, irgendwann ist Schluss.
    «Dich lasse ich nicht so einfach gehen. Bilde dir das nur nicht ein», schrie sie und kam schnell auf ihn zu.
    Das war zu viel, er hatte genug von Brüsten und Schwangerschaften und unerfüllten weiblichen Sehnsüchten. Er spürte plötzlich eine ungewöhnliche Härte in sich. Ein Fünkchen noch, nur eine Kleinigkeit wie dieser Metalldraht, und er hätte zugeschlagen. Er wusste nicht, wohin mit dieser Mischung aus Wut und Angst, in diesem engen, dunklen Flur. Er konnte nicht vorwärts, konnte sich aber auch nicht umdrehen und weglaufen, sie hätte ihn von hinten gepackt. Die Argumente waren ihm ausgegangen. Sie griff nach ihm, es sah aus, als wollte sie ihm die gepackte Reisetasche entreißen. Er riss die Tasche zurück, etwas zu heftig, sie streckte wieder ihre Hand danach aus. Da stieß er sie mit dem anderen Arm zurück. So schlimm konnte es nicht gewesen sein, er hatte nicht kräftig ausgeholt. Sie fiel hin. Eigentlich hätte sie gleich wieder aufstehen müssen. Aber sie lag auf dem Rücken und bekam keine Luft mehr. Seltsam ungelenk rührte sie mit den Armen.
     
    Konrad riss die Wohnungstür auf und rannte die Treppe hinunter. Er spürte diesen Rausch des Rennens in den Beinen, der die Angst aus dem Körper treibt, wenn der Körper sich an all die Male erinnert, in denen er entkam.
    Der Venezolaner damals am Teufelsberg, er wollte ihm nichts tun. Er wollte nur schneller sein. Aber die Jagd mobilisierte Angst und Energie. Der Venezolaner blieb ihm dicht auf den Fersen. Drahtig und hungrig, Konrad hörte seinen hechelnden Atem im Nacken, hörte, wie die vom Herbststurm heruntergerissenen Zweige unter seinen selbstgeschneiderten Schuhen knackten. Die schwerste Steigung, die Subida maxima in der Sprache des Venezolaners, ging zweihundert Meter am Hang nach oben. Im Winter schafften sie es auf dem vereisten Gras oft nur bis zur Hälfte, dann schlitterte der Erste schon wieder nach unten.
    Sie lachten über die dummen Amis, die von oben mit ihren Radarschirmen alles unter Kontrolle zu haben glaubten. Sie rannten durch den Wald,

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