Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
Vom Netzwerk:
Mensch-ärgere-Dich-nicht-Figuren vom Brett gefegt.»
    Die Haushälterin trug den Tee auf, Onkel Wolfgang wartete, bis sie aus dem Zimmer war.
    «Als Kind kann man das noch», erklärte er. «Aber am Ende des Lebens, wenn man alles ausgehalten und überlebt und auf vieles verzichtet hat, erkennt man in einem zufälligen Augenblick, etwa beim Anblick eines silbergrauen Buchenstammes, von dem im Spätherbst der blutrote Laubumhang gefallen ist, erkennt in der Gesamtheit dieser Jahre den schlagenden Beweis für die eigene Erbärmlichkeit. Die eigene Verachtungswürdigkeit. Aber man kann nichts mehr ändern, alles ist unumstößlich. Die ganze Zeit gewachsen. Leise, wie Dinge eben wachsen, ohne dass man es merkt. Es ist geworden. Ein Wort wie Granit. Im ersten Reflex will man die Augen vor der plötzlich erkannten Bedeutung verschließen, wie man mit einem Schlag des Handrückens den Rasierspiegel wegklappt. Unsinn, sagt man sich tapfer, alles Einbildung, und nimmt erst einmal einen Schluck Cognac. Wie vor dem Feindflug. Udet gelesen? Man ist ein Mann, und man betäubt sich.»
    Er trat an den Eichenschrank, holte die zwischen Büchern versteckte Flasche hervor und goss sich ein.
    «Dir auch?»
    Konrad schüttelte den Kopf.
    «Darfst wohl noch nicht?»
    Er wurde rot.
    «Man neigt dazu, in die alten Verdrängungen zu flüchten und sich weiter einzureden, man hätte alles um der Sache willen getan. Man sei ein guter Mensch gewesen. Moralisch. Es darf nicht sein, dass der Verzicht sinnlos war. Aber in bestimmten Augenblicken wird es einem doch klar. Das Liebste im Leben hat man sich verbieten lassen. Die neue Bedeutung der Vergangenheit ist wie eine scharfe Waffe, sie schneidet und schmerzt. Kennst du Hochhuths Stück über Hemingway? Ich halte nicht viel von diesem besserwisserischen Tendenzschreiber, aber dieses Messer, das nach dem rasenden Herz der Antilope tastet, das ist gut. Kennst du das?»
    Konrad schüttelte den Kopf.
    «Man ist zu alt, um noch zu tanzen.»
    «Sie und tanzen, Herr Krynitzki? In Ihrem Alter?»
    Die Haushälterin hatte lautlos die Wohnzimmertür geöffnet und durch den Spalt gelauscht. Sie zwinkerte Konrad zu.
    «Lass mich in Ruhe», schrie der Onkel, und die Frau schloss erschrocken die Tür.
    «Furchtbares Weib», lachte er, «findest du nicht? Niemand will mehr mit dir spielen. Verstehst du? Du bist hässlich geworden. Die Leute gucken weg. Nichts. Nur noch diese alte Schlampe, die dir Tee kocht und die Küche wischt und deine Tasse schneller vom Flügel räumt, als du sie austrinken kannst, und die heimlich in deinen Tagebüchern liest. Jetzt im Alter gerät man wieder in die Fänge der Frau. Und kein Hoffnungsschimmer, kein Ausweg. Nichts Schönes mehr im Leben. Die bunten Bauklötze, die du unterwegs aufgesammelt und aus denen du spielerisch dein Leben zusammengesetzt hast, stehen starr und unverrückbar. An diesen Mauern ist nicht mehr zu rütteln. Sie bilden die einzige und endgültige Lösung. Du hast es nur vorher nicht gewusst.»
    Konrad brummte.
    «Auf was hast du denn verzichtet?», fragte er schüchtern.
    «Du weißt, dass ich deine Mutter geliebt habe?», sagte der Onkel.
     
    Es dauerte unerträglich lange, bis sie an der Straße waren. Mühselig, zäh und klebrig wie in einem Albtraum, in dem man aufschreien will vor Ungeduld. Arkadij blieb immer wieder stehen, um etwas zu sagen, gleichzeitig gehen und reden konnte er nicht.
    Endlich unten, führte Konrad ihn zum Auto und öffnete die Beifahrertür. Er musste ihm beim Einsteigen helfen, weil er sich so ungeschickt anstellte. Er konnte seinen Körper nicht in der Mitte einknicken, gar nicht so sehr aus Steifheit, sondern aus Unkenntnis, wie man in ein Auto steigt. Endlich sackte er schwer auf den Sitz, Konrad setzte sich ans Steuer.
    Jetzt ein Gebet. Der polnische Groschen. Der Motor sprang an.
    «Kein Mercedes», sagte Arkadij, und Konrad zweifelte wieder, ob dieser Mann wirklich keinen Sinn für Ironie hatte.
    «Wohin?», fragte er.
    «Richtung Norden. Immer nach Norden», antwortete Arkadij, noch leicht außer Atem. Drei Finger der rechten Hand spreizte er gegen das Armaturenbrett, als müsse er sich abstützen. Man sah, dass er körperliche Bewegung schon lange nicht mehr gewohnt war. «Den Dnjepr stromaufwärts.»
    «Wo geht es zum Dnjepr?», fragte Konrad ungeduldig.
    «Links», sagte Arkadij und zeigte nach rechts. «Egal, fahr.»
     
    «Du musst mir den Weg zeigen. Ich habe keine Ahnung, wo wir langmüssen.»
    «Keine Angst,

Weitere Kostenlose Bücher