Der wahre Sohn
ich hab alles unter Kontrolle.»
Arkadij versuchte, die mitgebrachte Landkarte auszubreiten, sie war viel zu groß, das ungeschickt gefaltete, knickende Papier legte sich über Armaturen und Schaltknüppel, sodass Konrad es unwirsch zur Seite schieben musste. Er erntete einen verwunderten Blick. Bevor Arkadij die Karte ganz auseinandergefaltet hatte und halb darunter verschwand, entdeckte Konrad aus dem Augenwinkel eine Beule an seinem Oberschenkel, in der Hose. Als hätte er einen Gegenstand mitgenommen. Einen Hammer, zur Verteidigung. Möglicherweise auch nur ein Wulst der langen Baumwollunterhose. Er wollte nichts von Arkadijs Körper wissen, er wusste nicht einmal, ob Arkadij seine Medikamente mitgenommen hatte und wie lange sie reichen würden. Die abrupte Absetzung der Psychopharmaka hätte unabsehbare Folgen gehabt. Mit dem Körper eines alten Mannes kann alles Mögliche passieren. Was war, wenn Arkadij plötzlich zusammenklappte und einen Arzt brauchte? Wenn er aggressiv wurde?
«Hast du eigentlich deine Pillen mit?»
Es ging rasch aus Kiew hinaus, die Straße führte schnurstracks nach Norden. Irgendwo rechts, hinter den Weiden und Steppen, musste der Dnjepr fließen. Statt zu antworten, fragte Arkadij: «Hast du was gemerkt?»
Seit sie draußen waren, hatte er unwillkürlich auf das Du umgeschaltet, Konrad nahm es an.
«Nein. Was denn?»
«Wir sind eben durch ein Dorf gekommen.»
«Hab nichts gesehen.»
«Stimmt, weil es vom Erdboden verschwunden ist. Ein paar Mauerreste schimmerten noch durchs Gestrüpp.»
«Hast du das auf deiner Karte?»
«Ja. Die Deutschen haben es niedergebrannt, 1941 . Bei der Partisanenbekämpfung. Bieg mal hier nach links ab», sagte Arkadij. «Das ist eine ganz kurze Strecke, da kommen nur ein paar Weiler, danach Sumpf. Die Richtung muss ich noch abklären, dort war ich noch nie.»
«Was hast du da für eine Karte?»
«Das ist die Unterschiedskarte. Auf ihr sind alle Orte vermerkt, die noch in Frage kommen. Orte, die auf einer der anderen Karten nicht eingezeichnet waren. Ich habe sie rot markiert. Das solltest du wissen, falls mir etwas zustößt und du allein weitersuchen musst. Die normalen Orte, die auf allen Karten drauf sind, sind unmarkiert. Es muss sich um so einen roten Ort handeln, die anderen habe ich alle abgegrast. Dort hätte ich Olha längst gefunden.»
Das letzte Dorf lag schon eine halbe Stunde zurück.
«Jetzt erklär mir das mit Olha und dem Auto.»
«Pass auf. Ich suche Olha. Du das Auto. Vermutlich sind beide an ein und demselben Ort. Auf jeden Fall aber findet sich das eine von selbst, wenn du an den Ort des anderen kommst.»
«Bestechende Logik», sagte Konrad. Aber Arkadij ließ sich nicht irritieren.
«Jetzt frage ich dich, was ist leichter zu finden – Olha oder das Auto? Olha kann nicht mehr weglaufen, sie ist eine alte Frau. Sie lebt wahrscheinlich seit Jahren an demselben Ort, geht höchstens mal gebückt zum Dorfladen, um was zu holen.»
«Wenn sie überhaupt noch lebt.»
«Das Auto dagegen ist unglaublich beweglich, seine wichtigste Eigenschaft ist ja gerade die Geschwindigkeit. Selbst wenn wir es in der Ferne irgendwo entdecken, fährt es uns ohne weiteres davon. Deshalb müssen wir uns an Olha halten. Sie wird uns alles sagen.»
«So so.»
«Kannst du mal anhalten? Ich glaube, mein Beutel ist voll.»
«Was für ein Beutel?»
«Mein Harnbeutel. Am Katheter. Er ist voll, ich muss ihn leeren.»
Arkadij stieg aus und stakste in die Büsche. Konrad dachte nicht daran, ihm nachzugehen und ihm zu helfen.
Nach einer weiteren Stunde erreichten sie endlich eines der Dörfer hinter Fedorivka, die Arkadij im Auge hatte, ein Dorf, das er noch nicht überprüft hatte. Der Name weckte allerdings keine Erinnerungen bei ihm. Arkadij verriet keine besondere Erregung. In der Nähe ein Fluss, eher ein Flüsschen. Apfelbäume, kleine Obstgärten. Alles still, nur Insektengesumm. Lebte hier überhaupt noch jemand? Konrad hielt an der Straße im Dorf an, er vergewisserte sich auf seiner eigenen Landkarte, dass der Reaktor einige Dutzend Kilometer entfernt war.
«Sagt dir das was?», fragte Konrad.
Arkadij hob nur den Zeigefinger, als wollte er sich konzentrieren. Er schnupperte. Erkundete die Windrichtung.
«Kommt dir hier was bekannt vor?»
«Hier war ich noch nie.»
Sie fuhren im Schritttempo weiter. Nur wenige Seitenwege führten von der Dorfstraße ab, die flachen Häuser am Rand hatten dicke graue Strohdächer und lagen hinter
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