Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
Vom Netzwerk:
verwirren zu wollen.»
    «Ja, was dachten Sie. Schon als kleiner Junge hat er sich immer Geschichten ausgedacht. Er kam von der Schule und plapperte drauflos. Man wusste nie, was seiner Phantasie entsprungen und was tatsächlich passiert war. Hat er Ihnen denn etwas zu dem Auto sagen können?»
    «Ja. Er hat von einem Auto erzählt, aber einem Wolga. Vielleicht verwechselt er da was.»
    «Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir einen Wolga hatten.»
    «Und dann erwähnte er eine Frau, Olha, die bei einem Autoausflug dabei gewesen sein soll. Vielleicht hat er sich in der Zeit geirrt.»
    «Wir haben viele Ausflüge gemacht. Ich muss sagen, das war auch die schönste Zeit damals, Anfang der Fünfziger. Arkadij ging es da wieder richtig gut, er studierte, hatte keine Anfälle mehr.»
    «Anfälle?»
    «Er ist nachts immer hochgefahren und hat geschrien. Er stürzte auf den Flur. Wollte aus dem Haus rennen, ich musste die Wohnungstür zuschließen. Ich vertuschte seine Anfälle, so gut ich konnte. Wenn Jurij nichts davon mitbekam, hab ich ihm auch nichts gesagt. Er musste doch endlich wieder zur Schule. Unter der Besatzung hatte er nur vier Klassen absolviert, die Deutschen haben alle höheren Schulklassen verboten. Die sowjetischen Menschen sollten nichts lernen, sollten ein primitives Volk bleiben. Unsere Kinder mussten arbeiten, Laub sammeln, im Winter Schnee fegen. Die Schulbücher wurden gesäubert, alle Fotos von Sowjetführern, alle Texte über unsere Errungenschaften herausgerissen, einfach so, können Sie das glauben? Und das von einem Kulturvolk. Ich habe zwar viel mit Arkadij gelesen, aber er musste endlich wieder richtig lernen.»
    «Er hat gesagt, das Auto wäre von allein losgefahren.»
    «Was? Da sehen Sie mal.»
    «Hat er eigentlich eine Freundin gehabt, als junger Mann oder später? Verheiratet war er ja nie, soweit ich weiß.»
    «Fragen Sie ihn selbst.»
    «Na gut, dann anders gefragt …?»
    «Es gibt keine. Die einzige Frau in seinem Leben war ich.»
    Konrad nahm seine Notizen.
    «Aber wer ist Olha?»
    «Mein Gott, wieder diese Märchen. Ich habe Ihnen ja gesagt, er wird phantasieren. Ich kenne keine Olha. Das ist eine Phantasiefigur.»
    «Aber haben Sie eine Idee, wen er meinen könnte?»
    «Ich vermute, ein Kindermädchen von damals. Vor fünfzig Jahren, im Krieg, oder kurz davor. Das ist doch ewig her!»
    Sie guckte ihn kurz an.
    «Komisch. Er hat ziemlich konkret von ihr erzählt, es klang gar nicht wie ausgedacht. Er beschrieb eine Autofahrt, als Ihr Mann einmal ohne Sie losgefahren ist, versehentlich. Das ist doch fast zu alltäglich, um ausgedacht zu sein.»
    «Was denken Sie. Sie wissen nicht, wie er herumgesponnen hat. Schon lange bevor er in die Anstalt kam.»
    «Was heißt das, gesponnen?»
    «Zum Beispiel die Sache mit dem Programmieren. Das war Ende der Siebziger oder Anfang der Achtziger. Er bekam ernsthafte Schwierigkeiten auf der Arbeit. Er war ja zum Programmierer weitergebildet worden. Als Ingenieur mit mathematischen Kenntnissen hatte er eigentlich alle Voraussetzungen dafür. Aber die Programme haben ihn psychisch überfordert. Damit fing überhaupt alles an. Es kam so weit, dass er morgens nicht mehr aufstehen und nicht mehr in die Fabrik wollte. Anfangs hab ich ihn noch aus dem Bett gerüttelt, später habe ich es aufgegeben. Nur Jurij konnte noch mit ihm reden. Und auch da hat Arkadij sich zu seiner Entschuldigung Geschichten ausgedacht, dass man sich nur an den Kopf fassen konnte.»
    «Was für Geschichten?»
    «Na, er hat etwa gesagt, er könne der Programmiersprache nicht trauen.»
    «Was?»
    «Ja, genau so musste ich auch lachen, damals. Ein Werkzeug, erdacht von Hunderten und Tausenden sowjetischer Ingenieure und Mathematiker, ein Programm aus dem Kollektiv war unserem kleinen Arkadij plötzlich nicht mehr gut genug.»
    «Was hat ihn denn daran gestört?»
    «Soweit ich verstanden habe, glaubte er nicht, dass die Sprache wirklich von einem Maschinenbefehl zum anderen reicht. Ich kenne mich da nicht aus. Aber in so einem Programm steht ja ein Befehl hinter dem anderen, und er bildete sich wohl ein, dass zwischen zwei Befehlen leerer Raum sei. Irgendwo im Schrank müssen noch die Zettel liegen, auf denen er das aufgekritzelt hat.»
    Svetlana ging zur Anrichte und wühlte in Papierstapeln, gab es aber bald auf.
    «Nein, ich finde es nicht. Hier ist noch ein furchtbares Durcheinander nach Jurijs Tod. Ich musste für die Ämter seine Dokumente zusammensuchen und bin noch nicht dazu

Weitere Kostenlose Bücher