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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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gekommen, das zu ordnen. Sie sehen es ja, hier liegen uralte Sachen, die nie jemand aussortiert hat. Jurij hat immer alles gesammelt.»
    «Was meinte er mit diesem leeren Raum?»
    «Es war ungefähr so: Er fragte mich damals, was meinst du, wer befiehlt dem Rechner, dass er diesen leeren Raum zwischen zwei Befehlen durchmessen soll? Durchmessen, das Wort hat er benutzt, das weiß ich noch wie heute. Niemand, niemand befiehlt es ihm, und das genau war sein Problem. Er erklärte es mir: Stell dir vor, sagte er, ein Fußgänger kommt an eine Pfütze. Dann muss er sich entscheiden, ob er darüber hinwegsteigt oder in die Pfütze tritt, oder ob er vor ihr stehen bleibt. Oder kehrtmacht. Mir hat das nicht eingeleuchtet, ich sah da einen leeren Zentimeter Papier, keine Pfütze. Daraufhin rollte er mit den Augen. ‹Tante› sagte er, ‹du denkst dir das zu einfach.›»
    «Tante?»
    «Ja. Er nennt mich immer Tante. Das habe ich ihm nie abgewöhnen können.»
    «Merkwürdig. Hat er Ihren Mann denn Onkel genannt?»
    «Nein, Jurij war der Papa, die beiden waren ein Herz und eine Seele. Rumgesponnen hat er schon immer. Deshalb müssen Sie das mit dieser Olha auch nicht so ernst nehmen.»
    «Und wie reagierte Ihr Mann in solchen Momenten?»
    «Jurij hat sich das eine Weile angehört, aber am Ende regte er sich mehr auf als ich. Dass du vor der Pfütze stehen bleibst, brüllte er, heißt doch nicht, dass das Programm es auch tut. Sind ja nicht alle so faul wie du.»
    Sie lachte.
    Konrad blieb ernst.
    «Und Arkadij?»
    «Ach, der war so furchtbar empfindlich, er hatte kein Selbstbewusstsein. Vielleicht, weil ihm eine Frau fehlte. Er wurde ganz still, und dann war Schluss. Dann konnte man ihn nicht zurückholen in ein normales Gespräch. Er hat sich in sein Zimmer verzogen. Richtig streiten konnte man nie mit ihm. Er wurde immer nur traurig. Das hat etwas mit seiner Krankheit zu tun.»
     
    Konrad saß ihr am Küchentisch gegenüber, rührte in seinem bitter gewordenen Tee und ahnte plötzlich, dass sie nur deshalb so viel redete, um ihm nichts zu sagen.
    «Das ist ja alles schön und gut», sagte er.
    Sie hob fragend die Brauen.
    «Es hilft mir nur nicht weiter. Solche Anekdoten gibt es viele, im Leben jedes Menschen. Ich brauche verwertbare Hinweise.»
    «Ich dachte, Sie interessieren sich für Arkadijs Schicksal. Es ist auch Teil meines Lebens.»
    Dabei packte sie ihr Geschirrhandtuch, knäulte es zusammen und warf es auf den Rand der Spüle.
    «Ich glaube, es ist besser, Sie suchen jetzt wieder nach Ihrem Auto», sagte sie.
    Konrad stand auf. Arkadij konnte es nicht leichtgehabt haben mit so einer Mutter. Für sie war es ein Kinderspiel, kleine Jungs noch kleiner zu machen. Wenn sie wollte, war sie verständnisvoll, stellte aufmunternde Fragen. Aber sie konnte einem mit einer einzigen Bemerkung allen Wind aus den Segeln nehmen. Sogar Konrad als erwachsener Mann hatte Mühe, sich dagegen zu wehren. Er war auch in keiner guten Position, als der prinzipienlose, westliche Kleinbürger, der gegen Bezahlung etwas suchte, das er selbst verachtete. Er jagte ein Statussymbol des Kapitalismus, das er früher lustvoll zerkratzt hatte. Früher, als sein Blick noch klar war. Sie war alt und zerbrechlich, aber nicht gebrochen. Ihre Geschichte trug sie: Sie war Russin. Revolutionärin. Konrads Geschichte war abgeschnitten von den großen Ereignissen, schon als er auf die Welt kam. Und so wartete er vergeblich darauf, dass endlich seine wahre Geschichte anfinge. All seine Erlebnisse reichten nicht an das Gewicht solch anderer, reicher Leben heran, an dieses runzlige, vielschichtige, gewachsene Biographiegestein. Gewordenes, unergründliches Leben, das sich ähnlich fern in den rückwärtigen Raum erstreckte, wie man den Blick auf die eigene Kindheit empfindet. In der Kindheit sollen doch all die wichtigen Dinge passiert sein, jene Dinge, die selbst im Dunkeln liegen, aber gerade aus dieser sicheren, verborgenen Position heraus unser ganzes Leben bestimmen. Konrad war Ende dreißig und hatte nicht das Gefühl, bisher wirklich gelebt zu haben, er fühlte sich glatt und hohl wie ein ausgenommener Fisch. Svetlana konnte mit ihm anstellen, was sie wollte. Sie war Kampf, Verzicht, Leid, heroische Vergangenheit. Und immer noch so scharfzüngig wie eine junge Frau.
    Such den Knochen. Suchen Sie Ihr Auto.
    Erstaunlich auch, dass jeder dieses Wort nach seinem Gutdünken benutzte. Konrad spürte, dass die Bedeutung des Autos sich dadurch veränderte.

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