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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Sie, wie er gestunken hat? Entweder kam er zu uns, oder er wurde gleich in die Klinik gebracht. In Grund und Boden habe ich mich geschämt.»
    «Aber was hat er denn eigentlich gesucht?»
    «Wenn ich das wüsste.» Nach einer Weile: «Er wollte ja in allem und jedem Zeichen sehen», fuhr sie fort. «Er addierte Zahlen, verglich Quersummen, klammerte sich an Namensähnlichkeiten. Er dachte ganz verquer. Als kleiner Junge war er übrigens noch Linkshänder, in der Schule haben sie ihm das ausgetrieben. Ob das etwas mit seiner Krankheit zu tun hat? Manchmal habe ich den Eindruck, er denkt erst einmal auf seine linke Art und muss es dann übersetzen in die normale, rechte. Deshalb dauert bei ihm alles länger.»
    «Das kann auch an den Medikamenten liegen.»
    «Aber in der Klinik haben sie gesagt, es hat nichts mit seiner Psychose zu tun. Psychose», sagte sie nach einer nachdenklichen Pause. «Wissen Sie, was das ist?»
    «Dr. Prokoptschuk hat gesagt, Arkadij sei nach 1986 oft wochenlang verschwunden. Er habe dort im Norden nach einem bestimmten Ort gesucht.»
    Svetlana sah ihn an.
    «Ja, das stimmt. Wenn es wieder losging, schloss er sich tagelang ein. Daran haben wir es gemerkt, an der plötzlichen Ruhe. Deshalb habe ich manchmal sogar den Schlüssel versteckt, ganz wegwerfen wollte ich ihn nicht, manchmal musste ich ihn ja …»
    «Sagen Sie nicht, dass Sie ihn eingeschlossen haben? Wo ist denn das Kinderzimmer?»
    Sie machte eine wegwerfende Handbewegung nach links, in die Tiefe des Flures.
    «Später habe ich dann diese Landkarten bei ihm entdeckt. Die Markierungen. Diese wütenden roten Striche, mit Wachsstift. Manche Ortsnamen waren rot umrundet, als sollte dort etwas explodieren oder ein Anschlag verübt werden. Ich bekam einen Heidenschreck. Stapel von Blättern, vollgeschrieben mit Namen. Lange Listen. Alphabetisch geordnet, oder der Länge nach. Wenn er weg war, habe ich mich an seinen Tisch gesetzt und versucht, etwas davon zu verstehen.»
    «Anschläge?»
    «Ja, es sah aus wie die Planung für terroristische Anschläge. Ich war kurz davor, die Miliz anzurufen. Jurij hat mich davon abgehalten.»
    «Warum haben Sie Arkadij nicht einfach gefragt?»
    «Habe ich ja, am Anfang. Aber er konnte sich nie klar ausdrücken. Immer fing er mit diesen Maßstäben an, mit der Unendlichkeit, bis ich den Faden verlor. Und die Geduld. Bin schließlich auch nur ein Mensch.»
    «Damals wohnte er auch hier bei Ihnen, richtig?»
    «Ja, er wollte ja nie ausziehen. Es war ein Wunder, dass wir eine eigene Wohnung bekommen hatten. Die meisten lebten in Gemeinschaftsquartieren, auch wir hatten eine Zeitlang Untermieter.»
    «Mich wundert sowieso, dass Sie als Kleinfamilie all die Jahrzehnte eine so große Wohnung hatten.»
    «Das war eine Anerkennung für Jurijs herausragende Leistungen. Als mein Mann Anfang der dreißiger Jahre dienstlich nach Kiew versetzt wurde, waren diese Zimmer gerade frei. Die Vormieter hatten rausgemusst.»
    «Rausgemusst?»
    «Volksfeinde, so etwas. Das darf man ja heute gar nicht mehr sagen. Heute ist ja alles falsch, was damals richtig war. Aber das heißt doch nicht, dass mein Mann Unrecht tat.»
    Konrad schwieg.
    Erst auf der Treppe fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, noch einmal nach Olha zu fragen.
     
    Es war früh am Nachmittag, und Konrad fuhr in die Klinik. Bevor er Arkadij ein zweites Mal besuchte, wollte er möglichst viel von den Protokollen gelesen haben. Er wollte die richtigen Fragen stellen. Solange er nicht wusste, was Arkadij den Psychiatern in der jahrelangen Behandlung von sich offenbart hatte, war jedes Gespräch wie ein Stochern im Nebel. Es war ein seltsames Gefühl, wenige Türen von seinem Krankenzimmer entfernt in diesen Protokollen zu lesen, die seine Gedanken und sein Unbewusstes enthielten. Notizblock und Kugelschreiber lagen griffbereit neben den Akten. Er begann zu lesen, die Aufzeichnungen waren aus der ersten Phase, Anfang 1987 .
    «Ich sah das Flurlicht hinter der schrumpeligen Glasscheibe in der Tür meines Zimmers.»
    «Wieso nennen Sie es ‹schrumpelig›?»
    «Es war so vernarbt. So wellig. Man konnte nicht durchgucken.»
    «Milchglas?»
    «Ja, vielleicht. Beim Einschlafen hatte ich es im Blick. Ich sah dieses Glas und bekam das Gefühl, dass meine Beine immer länger wurden und sich von mir entfernten, als zöge es sie unwiderstehlich in den Weltraum hinaus. So als wenn man stirbt und sich von der Erde entfernt. Als unser Hund gestorben war, habe ich mir das

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