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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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musste sich die ganze Vorgeschichte selbst anlesen.
    Vor den Kopf stoßen wollte er ihn aber auch nicht. Nach der ersten leisen Euphorie über die fühlbare Unabhängigkeit, wenn er sich von Prokoptschuk lösen und direkter mit Arkadij in Kontakt treten würde, bekam Konrad ein bisschen Angst. Wie immer, wenn er im Begriff war, sich von etwas zu befreien. Er fand auch gleich eine Rechtfertigung, nicht gleich mit ihm zu brechen: Erstens war er aus praktischen Gründen auf Prokoptschuk angewiesen. Ohne ihn kam er hier nicht rein. Dann brauchte er seine fachliche Autorität, zumindest anfangs wäre es riskant, auf die Stimme der ärztlichen Vernunft zu verzichten. Er wollte Arkadij noch besser kennenlernen. Dass er freundlich redete, hieß gar nichts. Möglicherweise konnte er ja wirklich gefährlich werden, und um das herauszufinden, waren die Deutungen des Spezialisten hilfreich. Sie waren die unsichtbare Glaswand, hinter der der Verrückte auf und ab tigerte. Ohne sie würde er dem Kranken schutzlos gegenüberstehen, ohne eigene Sprache für das, was ihn von normalen Menschen unterschied. Ohne sie könnte der Verrückte nach ihm greifen. Mit der Peitsche der Deutungen und Fachbegriffe hielt der Psychiater das in Schach. Und wenn das nicht half, eine ordentliche Dosis Psychopharmaka, damit der Mensch ins Wanken und Schwanken gerät und am Ende selbst nicht mehr weiß, wer er ist.
    Als er Dr. Prokoptschuks Zimmer verließ, kam ihm ein schmaler junger Mann entgegen, der unruhig den Flur auf und ab lief, einen Arm auf dem Rücken, die Fingerspitzen an den Lippen, als grübelte er nach einer poetischen Wendung.
    «Ich kann Ihnen sagen, wonach Sie suchen.»
    «Danke, nein, nicht jetzt», antwortete Konrad, als müsste er einen Zeugen Jehovas abwimmeln.
     
    Am nächsten Mittag saß er schon wieder bei Svetlana in der Küche.
    «Ich glaube, Arkadij hatte überhaupt Schwierigkeiten, Dinge in die richtige Beziehung zueinander zu setzen. Auch bei Landkarten. Er grübelte oft lang, welche wirkliche Entfernung der auf der Karte entsprach, aber er hat sich fast immer verrechnet. Genauso mit dem Raum zwischen den Befehlen. Er zeigte mir Ausdrucke aus seiner Arbeit, Fachbegriffe, dazwischen leere Stellen. Die Lücke ist doch so klein, sagte ich. Nein, meinte er, das sieht nur so klein aus. In Wirklichkeit ist die Lücke unendlich
groß. Wie jetzt, unendlich, fragte ich. Ja, Tante, die Leere zwischen den Befehlen ist unendlich, nur kann man diese Unendlichkeit auf einem Blatt Papier nicht unterbringen. Der Einfachheit halber muss ein begrenzter Raum dafür genügen.»
    «Aber waren Sie nicht ein bisschen stolz, dass er sich so viele Gedanken machte?»
    «Ja, stolz waren wir damals schon. Er hatte so eine wichtige Arbeit im Betrieb bekommen, den Rechnern zu sagen, was sie tun sollten. In den siebziger Jahren waren übrigens die sowjetischen Rechner weiter entwickelt als die in den USA , wissen Sie das?»
    «Aber eines verstehe ich nicht. Darf ich Sie fragen?»
    «Ja, bitte.»
    «Wieso liegt er schon so lange dort? Haben Sie nie versucht, Arkadij wieder nach Hause zu holen?»
    Sie blickte nicht sehr freundlich.
    «Er will doch gar nicht. Außerdem besuche ich ihn regelmäßig und bringe ihm Essen. Soll ich vielleicht in die Klinik ziehen?»
    «Was heißt, er will nicht?»
    «Er will nicht zu mir zurück. Er hasst mich. Hat er Ihnen das noch nicht gesagt?» Ein rascher, lauernder Blick.
    «Er hasst Sie?»
    «Ja, und gefährlich ist er auch.»
    Svetlana krempelte den linken Ärmel ihrer Bluse hoch. Am Unterarm war eine kurze, breite Narbe zu sehen.
    «Meinen Sie, er sitzt umsonst in der Anstalt?»
    «Ist das von ihm? Warum hat er das getan?»
    «Weil er verrückt ist!», schrie sie fast.
    «Und wenn Sie ihm nun eine kleine Wohnung besorgen, damit er ein normales Leben führen kann?»
    «Das denken Sie sich so. Erstens, wer kann so eine Wohnung in Kiew bezahlen? Zweitens kann man ihn nicht einfach entlassen. Das haben mir die Ärzte immer wieder gesagt. Er fährt sofort los in diese Gegenden und macht sich auf die Suche.»
    «Aber warum kann man ihn nicht fahren lassen? Soll er doch suchen. Was könnte er denn finden?»
    «Sie haben ja keine Ahnung, was damals passiert ist. So oft mussten wir ihn aus dem Schlamassel holen. Wie peinlich das war, wenn die Miliz ihn zurückgebracht hat. Die Nachbarn an den Fenstern. Wir waren doch sozialistisches Vorbild. Und der eigene Sohn fährt aufs Land, wälzt sich dort quasi im Dreck. Was meinen

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