Der wahre Sohn
Mann. Aber es ist nun einmal Tatsache, dass das Fahrzeug auf seinen Namen angemeldet wurde, das ist aktenkundig. Jetzt frage ich mich, wie kommt jemand dazu, den Namen Ihres Mannes zu benutzen?»
«Woher soll ich das wissen? Wann ist das Auto angemeldet worden?»
«Vor etwa drei Monaten.»
«Da war er schon tot. Im Januar war Beerdigung. Ich habe ihn in den letzten Wochen fast jeden Tag im Krankenhaus besucht. Es war grauenhaft, niemand konnte ihm helfen. Ein einziges Mal habe ich Arkadij abgeholt und mitgenommen. Ein Riesenfehler. Er ertrug den Anblick seines Vaters nicht. Als wir in die Klinik zurückfuhren, hat er die ganze Zeit im Bus gezittert. Fast so wie früher.»
Dann, nach einer Pause: «Vermutlich hat jemand seine Unterschrift gefälscht.»
«Das habe ich auch schon überlegt. Aber dann muss er Ihren Mann gekannt haben, man schlägt ja nicht das Telefonbuch auf und sucht sich einen Namen heraus. Das wäre zu riskant. Deshalb recherchiere ich ja in Ihrem engeren Umkreis.»
«Wieso riskant?»
«Denken Sie mal, der Betrüger geht aufs Amt, und durch einen Zufall kennt der Sachbearbeiter den falsch Angemeldeten persönlich. Zum Beispiel.»
«Aber gerade das spricht doch dafür, dass dieser Jemand die Unterschrift meines Mannes ohne Sinn und Verstand gefälscht hat. Warum sollte er sonst einen Neunzigjährigen aussuchen? Das ist doch absurd, das nimmt ihm doch auf dem Verkehrsamt niemand ab.»
«War aber so, wie Sie sehen. Haben Sie eigentlich einen Ihor in der Bekanntschaft?»
«Ihors kannte ich viele. Ihor Wasilewski zum Beispiel, ein Arbeitskollege. Aber zu dem habe ich schon lange keinen Kontakt mehr. Was ist mit dem?»
«Hat Ihr Mann ihn auch gekannt?»
«Ja. Sehr eng war das aber nicht.»
Jurij Solowjow musste sein eigenes Leben geführt haben. Ein Leben, von dem Svetlana nichts wusste. Oder sie log. Und auch wenn nicht: Irgendetwas stimmte nicht.
Sie drückte sich ungewöhnlich aus für eine Mutter. Sie sprach ohne Liebe, wie über einen Gegenstand, überhaupt blieb Svetlana fast immer sachlich. Verwundert, fast angewidert beugte sie sich über diesen Sohn, als hätte sie ein Alien geboren, das sein ganzes Leben lang an ihr klettete. Sie tat, als hätte sie ihn nie leibhaftig aus sich herausgewrungen, aus ihrer eigenen Scham. Hätte nie seinetwegen geschrien vor Schmerz. Es war, als fürchtete sie ihn. War sie am Ende so obrigkeitsgläubig, dass sie den Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft mehr traute als ihrem eigenen Kind? Hielt sie es für möglich, dass er wirklich etwas Böses getan hatte?
«Haben Sie Ihren Sohn denn nie geliebt?»
Das war aus seinem Mund herausgeflogen wie Essen während heftiger Rede. Er nahm die Stoffserviette und drückte sie gegen die Lippen.
Sie zuckte zurück vor der Wucht seiner Frage.
«Doch. Als er klein war …» Ihr Kinn zitterte ein bisschen. «Er war doch …»
Sie zog die Nase hoch. Diese seltsame Angewohnheit. Kein Schnupfen, nur ein kurzes Einziehen der Atemluft.
«Er war mein Ein und Alles.»
«Das verstehe ich nicht. Wie können Sie es dann zulassen, dass Ihr Ein und Alles jetzt allein in dieser Klinik liegt, ohne jede Hoffnung? Mit wechselnden Bettnachbarn, und das sind nicht immer die angenehmsten Zeitgenossen.»
«Das ist nicht wahr! Was reden Sie? Ich bezahle dafür, dass er ein Einzelzimmer hat.»
«Sie bezahlen?»
«Ja sicher. Sonst hätte er doch längst rausgemusst.»
«Ach.»
«Sie lügen mich an. Warum?»
«In dem Zimmer stehen drei Betten, ich dachte … Ich habe ihn gesehen, wie er draußen an dem Holztisch saß und anderen Patienten beim Spiel zuguckte, fast wie ein kleines Kind, mit seinem krummen Rücken. Und bei alldem kann er immer noch lachen, ist er immer noch begeisterungsfähig. Ein blasses, großes, altes Kind. Bei diesem Scheißleben kann er noch lachen. Er tat mir so leid. Man lässt ihn noch nicht einmal im Park spazieren gehen. Er wird von Tag zu Tag schwächer, weil er sich nicht bewegt. Er hat gar keinen Anreiz mehr, aufzustehen. Offenbar wartet man dort nur sein Ende ab.»
Ein leichter Film trat auf ihre Augen, nicht mehr.
«Deshalb bringe ich ihm ja jede Woche etwas. Es geht schon so lange. Er tut mir so leid. Manchmal denke ich, es wäre besser für ihn, er würde …»
«Wie bitte?»
«Ja. Sie verstehen richtig. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn einem das eigene Kind fremd wird.»
«Aber wie kann er Ihnen fremd werden?», rief Konrad und erschauderte über der eigenen
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