Der wahre Sohn
jetzt zu ihm zurückgekommen war, ausgerechnet hier in Kiew. Vielleicht deshalb, vielleicht fühlte das Wort sich ein bisschen einsam. Stöcker waren mit dem Messer geschnittene oder abgebrochene Weidenzweige. Lang, grün und glatt, mit gelben Pünktchen und dünnen, spitzen Blatttrieben. So ein Stock war lang und biegsam und brach nicht leicht. Damit fühlte man sich sicher, fuchtelte gefährlich herum und konnte die Ungeheuer vertreiben, die hinter der Mauer des alten Bahnschuppens lauerten.
So ein Bollerwagen hatte eigentlich schon alles, was auch ein siebener BMW später hatte. Nur ziehen musste man ihn selbst. Mit ihm war Konrad größer gewesen als die Fahrer von heute. Der Autofahrer steht ja eigentlich auf der Stelle, bei ihm heben sich Jagd- und Fluchtinstinkt auf. Dort, wo er hinwill, ist auch nichts anders als da, wo er herkommt. Aber der Bollerwagen, der war toll gewesen. Das wollte er Arkadij beim nächsten Mal sagen.
Zurück bei Svetlana druckste Konrad nicht lange herum.
«Arkadij behauptet, Sie wären nicht seine leibliche Mutter.»
«Habe ich Ihnen das nicht erzählt?»
«Nein, und das wissen Sie auch. Warum erfahre ich so etwas durch Zufall?»
«Finden Sie das wichtig? Ist Ihnen mal der Gedanke gekommen, dass es mir unangenehm sein könnte, darüber zu sprechen? Wenn man sein Kind liebt, ist es doch egal, ob es das leibliche ist oder adoptiert.»
«Egal? Dadurch wird mir manches klar.»
«Es gibt Dinge im Leben, mit denen muss man sich abfinden.»
«Aber Sie haben es ihm irgendwann gesagt, oder?»
«Ich glaube schon.» Sie hob die Schultern leicht an.
«Er ist dreiundsechzig, und Sie haben ihm nie gesagt, dass Sie gar nicht seine richtige Mutter sind?»
«Natürlich weiß er das, schon lange. Wir haben nur nie offen darüber gesprochen.»
«Und Ihr Mann? War er der leibliche Vater?»
«Sie sind wohl schwerhörig. Arkadij ist adoptiert.»
«Wissen Sie, was das bedeutet? Dass da irgendwo noch Arkadijs leibliche Eltern sind. Zwei Menschen, die ich bisher überhaupt nicht berücksichtigen konnte. Wer war seine Mutter? Wo lebt sie heute, wenn sie noch lebt?»
«Sie phantasieren. Wir haben ihn adoptiert, weil seine Eltern nicht mehr da waren.»
«Und Sie hatten keine Ahnung, wer diese Eltern gewesen sein könnten?»
«Nein, wollten wir auch gar nicht.»
«Wie alt war er, als Sie ihn genommen haben?»
«Ich kann Ihnen das alles gern mal erzählen, aber in Ruhe, nicht, wenn Sie mich so anschreien. Sie tun ja, als wäre das meine Schuld.»
Allmählich beruhigte sie sich.
«Arkadij haben wir ihn genannt», sagte Svetlana. «Seinen richtigen Namen kannten wir ja nicht. Mein Mann hatte Beziehungen, dadurch konnten wir den kleinen Jungen adoptieren. Er war halb verhungert am Rand von Kiew aufgelesen worden, man hatte ihn ins Waisenhaus gebracht.»
Sie hielt inne, um sich zu besinnen. «Jurij ging dort hin, ohne mir etwas zu sagen. Blond und blauäugig sollte er sein, russisch oder baltisch-nordisch. Das hat er mir später erzählt. Und einen Jungen wollte er haben, unbedingt einen Jungen.» Sie lächelte. «Eines Tages kam er in Begleitung einer Frau, die wie eine Krankenschwester gekleidet war, und brachte ihn mit nach Hause. Der kleine Arkadij war fünf. Er hatte braune Augen. Hat fast kein Wort gesprochen. Ich weiß nicht, ob er es noch nicht konnte oder seine Sprache verloren hatte. Er guckte nur immer ängstlich aus seinen aufgerissenen Augen. Natürlich ahnten wir, dass seine Eltern in den Wirren der Kollektivierung und der Hungersnot umgekommen waren. Das war eine schreckliche Zeit damals, alle haben gelitten. Aber so ist das, anders hätte die Sowjetunion nie die Industriemacht werden können, die sie heute ist.»
Für einen Moment verstummte sie. «Wir konnten damals nicht ahnen, dass er Kleinrusse war, obwohl es natürlich nahelag, dass er hier vom Land kam. Vielleicht wollten wir es nicht wahrhaben.»
Kleinrusse, Konrad kannte dieses Wort noch aus der alten Enzyklopädie seines Vaters. Als Kind hatte er sich dieses Volk immer wie Liliputaner vorgestellt. Die Ukrainer – zu klein geratene Russen.
Abends im Hotel stellte er fest, dass seine Zeichnung langsam belebter wurde. Jetzt musste er Arkadijs leibliche, vermutlich tote Eltern darauf unterbringen, eine Reihe oberhalb von Arkadij und Olha, in ausreichender Entfernung zu Jurij und Svetlana. Die Konstellation schien allzu stimmig. Solch eine Symmetrie machte ihn immer misstrauisch, sie war meist eher ein Hinweis,
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