Der wahre Sohn
dass etwas gerade nicht stimmte. Rechts auf dem Blatt, mit Abstand, wartete das Auto. Es schien der ganzen Geschichte amüsiert zuzusehen, wie ein Kind beim Versteckspiel.
Konrad hatte nie werden wollen wie sein Vater, und doch beobachtete er an sich immer wieder dieselbe Grobheit, die er im Innersten verabscheute. Mit welchem Recht machte er dieser Frau, die so viel gelitten hatte in ihrem Leben, Vorwürfe? Wie ein Staatsanwalt hatte er Rechenschaft über ihre Gefühle verlangt. Noch am Abend kaufte er im Supermarkt am Platz des Sieges neben ein paar Dosen Bier auch eine Flasche Cognac. Der Alkohol in seinem Einkaufswagen weckte an der Kasse die Aufmerksamkeit eines Wachmanns, der ihm fast unhöflich nahe kam. Dann machte er sich wieder auf den Weg zu Svetlana.
«Ich möchte mit Ihnen anstoßen», sagte Konrad feierlich und wickelte die Flasche aus.
«Worauf?», fragte sie.
«Auf Ihren Sohn. Egal, ob adoptiert oder nicht. Auf Ihr langes Leben mit ihm. Auf die Liebe. Und auf unsere Versöhnung.»
Sie war gerührt. «Auf die Liebe», sprach sie ihm nach. Sie hielt einen kleinen Cognacschwenker in der Hand, ihre Traurigkeit war verflogen. «Die Liebe», sagte sie noch einmal.
«Sie haben bestimmt viele Verehrer gehabt. Schade, dass ich Sie nicht als junge Frau gekannt habe. Haben Sie keine Fotos aus Ihrer Jugend? Aus den ersten Ehejahren?»
«Ich weiß schon, was Sie wollen. Sie suchen nur wieder nach Verdächtigen. Egal, ich habe Ihnen schon so viel von mir erzählt, da kann ich Ihnen auch ein paar Fotos zeigen.»
Er folgte ihr bis an die Schlafzimmertür. Am Boden des Kleiderschranks, von Mantelschößen verdeckt, standen zwei Schachteln. Svetlana reichte ihm eine und trug die andere selbst ins Wohnzimmer.
Svetlana als junges Mädchen. Mit Pioniertuch. Bilder aus der Zeit vor der Revolution bis heute. Sie hatte die Abgase der ersten Autos in der Sowjetunion eingeatmet, des ersten Wolga ihres Mannes, den Geruch der großen Stahlwerke, den giftigen Dampf aus den Fabrikschornsteinen und die mit dem Rauch verbrannten Holzes vermischte Luft des Dorfes, wo sie ihre Datscha hatten. Svetlana und Jurij, frisch verheiratet. Er in Uniform, sie schmiegt sich mit einem koketten Lächeln an ihn und schaut zu ihm auf. Dann ein Porträtfoto von ihr.
«Das sind Sie?»
Er war frappiert vom Gesicht der jungen Frau auf dem Bild. Damals musste sie Anfang dreißig gewesen sein. Der rechte Mundwinkel war eine Spur nach oben gezogen und verlieh ihrem Gesicht jenen skeptisch lächelnden Ausdruck, den es bis heute besaß. Die Konturen der Lippen verrieten auch auf der Schwarzweißaufnahme, dass Svetlana sich für das Foto geschminkt hatte. Im Hintergrund die Falten des Studiovorhangs. Ihr rabenschwarzes Haar straff zurückgebunden. Die beiden nicht sehr großen dunklen Augen unter dichten, dunklen Brauen träumten rechts an der Kamera vorbei – und dieser Blick war es, der Konrad besonders bewegte. Das war nicht der lebensfrohe, auch nicht nur gespielt frohe Ausdruck einer Jungvermählten.
«Hier wirken Sie sehr nachdenklich.»
Sie nahm das Foto zur Hand. «Ja, ich kann Ihnen auch sagen, warum. Das muss kurz nach dem Krieg aufgenommen worden sein. Ich war noch keine vierzig. Jurij war gerade demobilisiert worden und heimgekehrt. Ich freute mich, aber ich war unglaublich erschöpft. Es war eine neue Situation, eine Herausforderung. Ich hatte eine schwere Zeit hinter mir. Allein mit dem Kind, nach der Besatzung, dem Hunger.»
«Aber Sie hatten überlebt, Ihr Kind auch. Und Ihr Mann war aus dem Krieg zurück. Dafür sehen Sie ziemlich traurig aus.»
«Sie wissen nicht, was ich durchgemacht habe.»
«Auf diesem Bild … ich hätte mich bestimmt in Sie verliebt», sagte Konrad, nicht um ihr zu schmeicheln, sondern weil das Gesicht ihn tatsächlich faszinierte.
Sie senkte den Kopf, blickte verschmitzt zu ihm hoch und hob das Glas. «Auf die Jugend!»
«Sie waren wirklich sehr schön.» Er korrigierte sich gleich: «Man sieht es Ihnen heute noch an.»
Svetlana hatte eine Zigarrenkiste auf dem Tisch stehen und holte nun ein Foto nach dem anderen heraus. Manche legte sie zur Seite, andere reichte sie ihm weiter. Der kleine Arkadij. Süß. Ein hellhäutiger Bengel mit kurzgeschorenem, rundem Schädel. Dann Arkadij als junger Pionier. Jurij in einer Uniform der Roten Armee. Sie griff das nächste Foto und wollte es ruckartig wieder weglegen, stieß dabei mit der Hand gegen die Kiste und fegte sie vom Tisch. Die Fotos
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