Der wahre Sohn
schon glücklich auf ihrer Brust, er brummelte etwas und schlief ein. Dass sie aufstand, merkte er gar nicht mehr. Erst als sie am Mittag zurückkam und mit den Tüten raschelte, wurde er wach.
Bald wehte der Geruch ihrer Zigarette vom Balkon ins Zimmer. Vielleicht war die Reklame doch nicht so schlecht.
«Möchten Sie eins oder nicht?», hörte er Svetlanas Stimme, plötzlich laut.
«Wie bitte?»
«Ich frage zum dritten Mal, ob Sie ein Stück Kuchen wollen. Wo sind Sie mit Ihren Gedanken?»
«Ja, bitte.»
«Es ist nicht einfach für mich, wenn Sie so von mir denken», sagte Svetlana.
«Wie?»
«Dass ich unfähig zur Liebe wäre.»
«Das habe ich ja nicht gesagt, ich finde nur Ihr Verhältnis zu Ihrem Sohn …»
«Es tut mir weh. Ich hatte gehofft, Sie würden mich verstehen. Sie sind so schnell mit Ihrem Urteil.»
Svetlana war anders – keine jener Frauen, die ihre leiblichen, ungebärdigen Kinder an starre, tote Ideale verraten, gleich Übervätern, fast schon erkaltete, nur von ihrem Starrsinn aufrechterhaltene Männer, in deren Leib sich das Böse schmerzhaft eingewachsen hat. Und die dieses Böse aus lauter Hass auf den Faschismus unter umgekehrtem Vorzeichen weitertrugen und fortpflanzten. Das Slawische bewahrte Svetlana vor der völligen Vertrocknung. Sie hätte nie zu so einem wachsgesichtigen Wesen werden können wie diese DDR -Richterin, wie hieß sie doch gleich.
Ihre Augen funkelten. Er begriff, dass er noch viel zu wenig von ihr wusste.
Svetlana als junge Frau, in den dreißiger Jahren, mit Ende zwanzig: Vermutlich hat sie Stalin geliebt. Dass sie glühende Kommunistin gewesen war, hatte sie selbst gesagt. Als sie eine junge Mutter war, kamen die Nazis gerade erst an die Macht. Seine eigene Mutter war beim BDM gewesen, mehr wusste er nicht, und auch das hatte er nur erfahren, weil er irgendwann die in der Rückwand des Schreibtisches versteckten Fotos gefunden hatte. Seine Mutter in gelblich-braunem Grau, im Sudetenland, als ganz junge Frau. Strahlend und glücklich. Luft. Laub. Kopfsteinpflaster. Alleen. Pferdewagen. Es erleichterte Konrad, dass die Geschichte, die er hier untersuchte, ausnahmsweise einmal ohne die Triebkraft deutscher Schuld auskam.
Aber ob Stalin oder nicht, irgendjemanden musste diese Frau in ihrem Leben geliebt haben, mit großer Wucht und Gewalt. Gerade weil sie ihren eigenen Sohn so geringschätzte. Der Mensch ist so gebaut, dass er einmal im Leben jemanden lieben muss, dachte Konrad. Dass dieser Jemand ihr Mann Jurij gewesen sein sollte, hielt er für unwahrscheinlich. Für drei Monate nach der Beerdigung war sie schon wieder ziemlich fidel.
«Wir reden darüber», sagte er. «Aber nicht mehr heute. Es wird schon dunkel. Sie sind müde.»
Er legte ihr die Hand auf den Unterarm, zum Abschied.
Abends im Hotel zog er sich nackt aus, streifte den flauschigen Bademantel über und zeichnete gedankenverloren den Kreis um Jurij Solowjow nach, Jurij den Ungeliebten. Er bedauerte plötzlich, dass dieser Mann nicht mehr sprechen konnte. Jurij der Stumme. Jurij der Betrogene. Dann fiel ihm Ihor Hryciuk ein, eine blasse Gestalt, die er der Ordnung halber am Rande der Konstellation unterbringen musste.
Wenn Jurij Solowjow noch lebte, hätte er das Auto vielleicht längst gefunden. Es ist schwer, einen Unbekannten, Sprachlosen zu verstehen. Alle Schwierigkeiten rührten nur daher, dass dieser Vater tot war.
Männer, dachte Konrad und lehnte sich zurück. Männer können wenigstens lachen. Sogar über sich selbst. So wie Jacek und er zwischen den alten Autos, als ihnen beim Aufbruchüben einmal eine ganze Tür von der rostigen Karosserie abgefallen war. Ohne die Frauen könnte ein Mann gar nicht so halsstarrig und steif werden. Er trägt ja immer den kleinen Jungen in sich. Was hat Napoleon sich gekringelt, als er mit dem Großstallmeister Caulaincourt aus Russland zurückfuhr, hinter zugezogenen Fenstervorhängen in der Kutsche, in Decken gehüllt und trotzdem frierend, inkognito quer durch Europa. Was hat er dort im Osten nicht alles angestellt. Hunderttausende Tote, Menschen und Pferde, Felder blieben da im Raureif zurück, auf denen das ungeerntete Getreide verfault, darüber die aufgedunsenen Leichen und Kadaver, an jedem Flussufer, jeder Brücke stauen sie sich, und Napoleon schüttelt sich vor Lachen am Nowy Świat in Warschau, denn er malte sich und seinem Großstallmeister gerade aus, wie dieser zur Strafe für den ganzen Schlamassel, diesen missratenen
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