Der wahre Sohn
Jahren.»
Sie schwieg, dann, nach einer Weile: «Sie müssen auch nicht alles über unsere Familie wissen. Manchmal habe ich den Eindruck, Sie wollen mich ausziehen.»
Konrad wurde rot und ärgerte sich, dass er das nicht verbergen konnte.
«Vielleicht schämen Sie sich für Ihren Krieg und wollen mir ein schlechtes Gewissen einreden», sagte sie fast wieder fröhlich. «Damit Sie am Ende als der Gute dastehen?»
«Blödsinn.»
«Ein Scherz», lächelte sie und legte ihm die Hand auf den Unterarm. «Aber es ändert nichts, wenn Sie Arkadij die Wahrheit sagen. Es wird ihm nicht helfen.»
«Ich muss es ihm sagen.»
Konrad schlief in der Nacht schlecht vor Aufregung, wie Arkadij auf diese Nachricht reagieren würde. Schon am Vormittag war er in der Klinik.
«Ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen. Ich habe leider eine traurige Nachricht für Sie. Svetlana hat versäumt, es Ihnen rechtzeitig zu sagen.»
Arkadij stützte sich auf beide Ellbogen und sah ihm ins Gesicht. «Mein Vater?»
«Ja.»
«Tot?»
«Gestorben.»
Arkadij fiel auf das Kissen zurück und starrte an die Decke.
«Wie?», fragte er dann. «Wie ist er gestorben?»
«Friedlich eingeschlafen», log Konrad.
«Sie lügen!», schrie Arkadij. «Wieso lügen Sie mich an? Waren Sie dabei? Sie können das gar nicht wissen.»
Vom Geschrei alarmiert, kam eine Schwester ins Zimmer gelaufen. Konrad hob beschwichtigend die Hand.
«Aber er war doch fast neunzig.»
«Na und?», rief Arkadij, noch lauter. «Das ist kein Grund. Man hat ihn bedroht. Ist er nicht zusammengeschlagen worden? Erschossen? Hat man wirklich abgewartet, bis die Krankheit ihn erledigt?»
«Wer soll ihn bedroht haben? Und warum?»
«Sie dürfen ihn nicht aufregen», rief die Schwester. «Es ist besser, Sie gehen jetzt.»
Dr. Prokoptschuk erschien in der Tür, Konrad konnte gar nicht so schnell gucken, wie er eine Spritze aufgezogen hatte und nach einer Vene am schmächtigen, sehnigen Unterarm Arkadijs tastete. Der bäumte sich auf, wollte ihm den Arm wegreißen. Nach einigen Sekunden sank er aufs Laken.
Konrad wurde hinausgebeten. An der Tür drehte er sich um und fing Arkadijs dahindämmernden Blick auf. Er floh geradezu aus der Klinik und fuhr sofort zu Svetlana.
«Ich habe es ihm gesagt.»
«Also doch! Wie hat er es aufgenommen?»
«Ich dachte, er wird ohnmächtig. Er hat kein Wort mehr herausgebracht. Ich blieb noch eine Weile an seinem Bett.»
«Und, hat er nichts gesagt?»
«Er hat gefragt, ob Ihr Mann gewaltsam gestorben sei.»
«Wie bitte?»
«War es denn so?»
«Sind Sie verrückt? Ich habe Ihnen doch gesagt, es war eine Neubildung.»
Dieses russische Wort wollte für Konrad seinen ungewöhnlichen Klang nicht verlieren, sooft es Svetlana auch benutzte: Er glaubte ihr nicht mehr.
«Ehrlich gesagt, beunruhigt es mich, dass Sie Ihrem eigenen Sohn so eine wichtige Tatsache verheimlicht haben. Da kann ich ja nur erahnen, was Sie mir alles verschweigen.»
«Mein Gott, sind Sie mein Beichtvater?»
«Nein, aber ich …»
«Glauben Sie vielleicht, Sie sind der liebe Gott? Meine Religiosität hält sich in Grenzen. Sie suchen ein Auto. Versuchen Sie nicht, mich auch noch zu bekehren.»
«Und Sie behandeln mich nicht wie ein kleines Kind.»
Sie war verblüfft. «Aber Sie sind doch eins!»
Ach, so war das. Sie spielte mit ihm Katz und Maus.
«Ich mache uns erst einmal etwas zu essen, was meinen Sie?», sagte Svetlana.
Essen. Er wollte die Wahrheit, sie fütterte ihn.
Als sie am Tisch saßen, klingelte das Telefon. Zum ersten Mal hörte er den altmodischen Apparat in dieser Wohnung läuten. Svetlana lief erschrocken in den Flur.
«Sie sollen in die Klinik kommen», sagte sie, als sie aufgelegt hatte. «Jetzt haben Sie den Salat. Arkadij ist völlig durcheinander. Er will Sie sehen.»
«Jetzt, um diese Zeit? Wer war das?»
«Dr. Prokoptschuk. Mein Gott», sagte sie, griff sich ans Herz und schraubte schon im Hinsetzen den Aluverschluss der Wodkaflasche ab. «Dieses Klingeln ist so furchtbar. Immer wenn der Apparat geschrillt hat, war irgendetwas Schlimmes passiert. Einmal war es der Betriebsarzt des Stahlwerks, als Arkadij umkippte. Als das mit Tschernobyl war, verstand ich erst gar nicht, wer anrief. Dann erkannte ich ganz weit weg die Stimme meines Mannes. ‹Geht nicht auf die Straße›, sagte er. ‹Warum nicht?›, hab ich gefragt, er hat es nur wiederholt und dann aufgelegt.»
Es wurde schon dunkel, als Konrad die Pawlowka erreichte.
«Ich
Weitere Kostenlose Bücher