Der wahre Sohn
Konrad gegen Mittag in die Klinik kam. «Wenn die Befragung Herrn Arkadij so aufregt, kann ich das nicht mehr verantworten. Es wirft unsere Therapie zurück.»
Konrad erschrak. «Tut mir leid. Ich ahnte ja nicht, dass er nichts vom Tod seines Vaters wusste.»
«Heute können Sie jedenfalls nicht zu ihm», sagte Prokoptschuk.
«Ist etwas passiert?»
«Nein. Aber wir haben ihn ruhiggestellt. Er muss sich ein paar Tage erholen.»
«Können Sie sich vorstellen, wen Arkadij gemeint haben könnte, als er davon sprach, dass irgendwer seinen Vater bedrohte?»
Prokoptschuk hatte natürlich keine Ahnung, er konnte sich nicht einmal an den Dialog mit Guzman erinnern.
«Wahrscheinlich eine Schreckensfigur, mit der man kleinen Kindern Angst macht. Ich würde das nicht so wörtlich nehmen.»
Konrad blieben offenbar nur Geschichten aus der Vergangenheit. Dabei war die Gegenwart so klar: Die Blütenrispen des Flieders standen kraftvoll und aufrecht von den Zweigen. Es war schon Ende Mai. Er setzte sich auf den harten Holzstuhl, öffnete den Aktendeckel und erteilte Professor Guzman das Wort. Dabei fiel ihm ein, dass Mazepa ihm immer noch nicht verraten hatte, ob dieser Mann noch lebte.
«Wie war das, als Ihr Vater aus dem Krieg zurückkam?»
«Aus dem Krieg, aus dem Krieg. Wissen Sie, was Krieg ist, Herr Professor? Ich weiß es nicht. Wir hatten Vater ja fast vergessen. Ich jedenfalls. Ich hatte gar nicht mehr mit ihm gerechnet.»
«Sagen Sie mir doch einfach, was Sie empfanden, als er plötzlich wieder da war.»
«Ich hatte das Gefühl, innerlich zwei zu sein.»
«Ach?» Der Psychiater merkt auf.
Arkadij freut sich diebisch.
«Nicht, was Sie denken, Herr Professor. Ich war noch derselbe kleine Junge wie fünf Jahre zuvor, als Vater fortging. Dieser kleine Junge freute sich riesig, wollte sich ihm in die Arme werfen. Aber inzwischen war da auch ein großer Junge, ein junger Mann fast, der all die Monate mit Olha im Bett gelegen hatte und an ihr schnüffelte, um sich heimlich in einen Rausch zu versetzen. Dieser große Junge freute sich überhaupt nicht. Überhaupt: Was suchte der Vater eigentlich noch hier? Der kleine Junge hatte so lange Sehnsucht nach ihm gehabt, Angst um ihn, in Albträumen vom Krieg, sterben hatte er ihn sehen in seinen Träumen, und er? Er kam ja viel zu spät, um diese Sehnsucht wiedergutzumachen.»
«Kann man das denn, eine Sehnsucht wiedergutmachen?»
«Ich glaube schon, aber wenn jemand sich zu lange sehnt, dann hilft am Ende nichts mehr. Dann ist die Sehnsucht nicht mehr zu heilen.»
«Verstehe. Und glauben Sie, dass Ihre Sehnsucht, wie Sie es nennen, sich noch heilen lässt?»
Arkadij zuckte mit den Schultern. «Ist mir egal. Heute erwischen Sie mich mit dieser Frage auf dem falschen Fuß, Herr Professor, auf dem guten nämlich. Heute geht es mir hervorragend, wegen Ihrer Tabletten.» Lacht.
«Und außerdem hatte ich Angst vor dem Vater. Ich hatte Angst, er könnte merken, dass Olha mich sehr mochte, und mich dafür töten. Deshalb hatte ich auch Angst um Olha. Vater hatte ja viele Menschen umgebracht, im Krieg.»
«Woher wissen Sie das?»
«Das machen Soldaten im Krieg.»
«Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?»
«Nie. Svetlana hat mir gedroht, wenn ich nicht brav bin, würde er mich umbringen wie seine eigenen Kameraden.»
«Aha. Dann wusste Svetlana also, was der Vater im Krieg getan hatte. Und die beiden Jungen in Ihnen, haben die miteinander geredet?»
Arkadij lacht. «Hören Sie auf, Herr Professor, das war nur ein Vergleich. Um es Ihnen anschaulich zu machen.»
«Warum hatten Sie Angst um Olha? Warum hätte der Vater ihr etwas antun sollen?»
«Weil sie immer so lieb zu mir gewesen ist.»
«Was meinen Sie? Auf welche Weise war sie lieb zu Ihnen?»
Arkadij wird nachdenklich. «Eigentlich hat sie mir immer nur was auf die Finger gegeben.»
«Und das hat Ihnen gefallen?»
«Nein. Nur, wenn ich an meinem … an meinem …» Blickt an seiner Bettdecke hinunter.
«Wollte sie nicht, dass Sie das machen?»
«Sie legte es doch darauf an. Sie lief so nachlässig gekleidet herum. Einmal habe ich sogar ihren nackten Po unter der Schürze gesehen. Diesen dunklen Strich. Svetlana hat sie dafür immer ausgeschimpft. Irgendwann abends bei ihr – da muss ich schon größer gewesen sein – schob sie meine Finger von dort unten weg, schaute auf ihre Hand, als ob sie schmutzig sei, und verzog das Gesicht. Sie tat, als wenn sie etwas abstreift, dann drohte sie mir mit dem Finger.
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