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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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anbrennt.»
    «Anbrennt?», fragte Muschter in seinem Hamburger Akzent, mit nach unten führendem Tonfall, als erwarte er gar keine Antwort mehr.
    «Nur über dieses Geheimnis komme ich an den Wagen heran. Und das geht nicht auf die Schnelle. Ich muss mit den Leuten reden, ihr Vertrauen gewinnen.»
    In dem Moment war die Leitung tot.
    «Hallo?», fragte Konrad ungläubig.
    Er blieb mit dem Hörer in der Hand zurück. Nicht «Menschen» hatte er gesagt, sondern «Leute». Im Russischen macht das keinen Unterschied, im Deutschen sehr wohl, sodass er sich, wenn auch nur Muschter gegenüber, über die Menschen hier erhob. Und was sollte das heißen, «ihr Vertrauen gewinnen»? Hieß das nicht im Umkehrschluss, dass eigentlich er es war, der unlautere Absichten hegte? Fast beschämt legte er den Bakelithörer auf die schwere Gabel. Im Halbdunkel der Telefonkabine war er vor den Blicken der Gäste und der durchs Foyer streunenden Liftboys sicher, deswegen verharrte er noch einen Moment. Ihm schien, draußen würde man ihm sofort ansehen, dass gerade eine für ihn lebenswichtige Verbindung durchtrennt worden war. Dass er diese Zelle nicht mehr so vital verlassen würde, wie er sie betreten hatte. Schmerzlich wurde ihm klar, wie weit er sich schon von seinem alten Kontinent entfernt hatte, von dem festen Boden, der ihm nicht viel Freude, aber immerhin große Sicherheit gegeben hatte. Weshalb musste er Muschter etwas vorspielen? Ausgerechnet dem Mann, der ihm Aufträge verschaffte, ihm wohlgesinnt war? Mit Muschter konnte man über alles reden, wie oft hatten sie herumgealbert. Und jetzt? Bizarr! Er war noch nicht verrückt, aber sein innerer Ort hatte sich verschoben. Das sah er, als er sich im Echo seiner eigenen Worte betrachtete wie in einem Spiegel. Einem so aufgeweckten Mann wie Muschter konnte diese Veränderung nicht entgangen sein.
    Nach dem Telefongespräch musste Konrad erst einmal zu sich kommen. Er ging auf sein Zimmer, die Tür war angelehnt. Das Zimmermädchen machte sich mit dem Staublappen am Tisch zu schaffen. Etwas unwirsch bat er sie, ihre Arbeit zu unterbrechen und ihn allein zu lassen. Sie huschte erschrocken aus dem Zimmer, und noch bevor die Tür zufiel, warf er sich rücklings aufs Bett. Mit dieser Energie wollte er ungern Svetlana gegenübertreten.
    Warum war Muschter misstrauisch geworden? Weil er schon ein paar Tage länger hier war als geplant? Hatte Mazepa ihm berichtet? Oder hatte er erfahren, was in Berlin passiert war? Und wenn schon. Konrad hatte nichts getan.
     
    Auf dem Weg zum Lemberger Platz wunderte er sich. Er sah sich die Trjochswjatitelskastraße bergan steigen und fragte sich, wer er war, wie er da durch die Straßen von Kiew lief. Das war keine rhetorische Frage – er kannte die Antwort tatsächlich nicht. Erst durch Svetlana war er wieder gezwungen, sich in eine Form zu bringen. Glücklicherweise half sie ihm.
    Auch heute, wo es ihm schlechtging, war sie beinahe fröhlich.
    «Sie behaupten doch immer, ich könnte nicht lieben.» Mit diesen Worten empfing sie ihn, kaum dass er die Küche betreten hatte.
    «Das habe ich nie gesagt», erwiderte Konrad und war froh, sich auf das Gespräch mit ihr einlassen zu können, über ein anderes Thema, über Gefühle, wo jeder ein bisschen schwärmen und schwindeln kann, fern der harten Fakten.
    «Es ist nämlich nicht wahr», fuhr sie fort, nachdem er sie mit hochgezogenen Brauen ermuntert hatte. «Mir ist eine Erinnerung gekommen. Seit Sie hier sind, geht mir so einiges im Kopf herum. Ich muss Ihnen das erzählen, nicht dass Sie anfangen, mich zu hassen. Am Anfang wollte ich Arkadij wirklich alles geben. Er ist zusammengezuckt, wenn ich ihn an mich gedrückt habe.»
    Sie beugte den Kopf zu dem vorgestellten Kind und hielt es mit beiden Armen, wiegte es, drückte es an ihren Busen. Dann sah sie Konrad wieder in die Augen – ein Blick, als wäre sie immer noch stolz auf dieses Kind.
    «Und am Anfang hat er mich gebissen.» Ihr Gesicht wurde hart. «Wissen Sie, wie weh das tut?»
    «Sie haben Arkadij gestillt, obwohl Sie keine Milch hatten?»
    «Na ja. Das ist doch keine Schande.»
    «Warum haben Sie eigentlich nie eigene Kinder gehabt?»
    «Meine Brüste waren so prall damals.» Sie drückte mit den Handflächen von beiden Seiten gegen ihren Busen.
    Nie hätte Konrad sich träumen lassen, dass er sich eines Tages, wenn auch nur in Gedanken, auf den Körper einer über Achtzigjährigen einlassen würde. Er durfte sich die Irritation nicht

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