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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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anmerken lassen. Dieser Augenblick war ungemein wichtig, die Situation von großer Zerbrechlichkeit. Von nun an konnte es in jede Richtung gehen. Eine unbedachte Reaktion, und sie würde sich für immer verschließen. Er brauchte Svetlana jetzt mehr als je zuvor, und wenn er noch etwas von ihr erfahren wollte, musste er auf diese Koketterie eingehen. Geschwächt nach dem Gespräch mit Muschter, fiel es ihm nicht besonders schwer.
    «Man hätte denken können, sie sind übervoll, als wollte ich ihm für alle Kinder, die ich hätte haben können, zu trinken geben. Dabei hatte ich wirklich keine Milch, meine Brüste waren einfach nur groß.»
    «Und ein eigenes Kind haben Sie nie gestillt?», versuchte es Konrad noch mal.
    «Der Kleine bekam gar keine Luft mehr, wenn ich ihn an meinen Busen drückte. Er war ja schon fünf. Ich wollte ihm alles von mir geben, er hatte so viel entbehrt. Bestimmt hatte er die schlaffen, leeren Beutelchen seiner Mutter noch vor Augen, auf denen er wütend herumkaute, bis sie ihn vor Schmerzen wegstieß. Da lag er dann klein und schwach, völlig hilflos ohne seine Mutter.»
    «So stellen Sie sich das vor?»
    «Ich weiß es. Ich habe Fotos gesehen von der Hungersnot. Was konnte er dafür, dass seine Eltern Kulaken waren? Die Feinde des Volkes musste man liquidieren, das ist klar, aber die Kinder? Euren Goebbels habe ich am meisten dafür gehasst, dass er seine eigenen Kinder vergiftet hat, später, als ich Bilder davon sah. Nebeneinander auf dem Boden aufgereiht. Was konnten die armen Würmchen dafür! Auch bei uns war es damals unmenschlich, aber man durfte so etwas nicht laut sagen. Sie wissen nicht, was für Zeiten das waren. Jeder konnte einen denunzieren, sogar die nettesten Nachbarn.»
     
    Auf dem Weg zum Hotel ging Konrad im Supermarkt vorbei. Mit zwei Dosen Bier in den Händen und zwei weiteren, die die Seitentaschen seines Jacketts ausbeulten, schlich er durch die Empfangshalle zum Fahrstuhl. Nur noch fallen lassen wollte er sich.
    Muschters Schweigen machte ihm mehr zu schaffen, als er sich eingestand. Auf die anderen konnte er mehr oder weniger verzichten: Zu Prokoptschuk hatte er sich die nötige innere Distanz erarbeitet. Mazepa akzeptierte er als Profi, mochte ihn sogar. Aber Muschter war ein anderes Kaliber. Muschter war Teil seiner Wirklichkeit, einer Welt, aus der sich Konrad räumlich zwar entfernt, aber nicht innerlich gelöst hatte. Muschter war zu wichtig. Er konnte ihn nicht ohne weiteres abschreiben.
    Dabei war es nicht schwer, ihn sich als Rädchen im Getriebe des Unternehmens vorzustellen. In der Masse der anderen Angestellten verlor er an Statur, das hatte Konrad bei seinem ersten Besuch in der Versicherungszentrale in Köln festgestellt. Man führte ihn durch die immer neu sich verzweigenden Flure des alten Gebäudes. Höflich steckte er den Kopf in einzelne Zimmer, Muschter rief über die Schultern seinen Namen in den Raum. Sachbearbeiter reichten ihm die Hand. Die Regale hingen voller Akten. Ein Jonglieren mit Blech- und Personenschäden, aber nie direkt, immer nur vermittelt über die Dokumente in den Hängeregistraturen. Alles, auch die schrecklichsten Autounfälle, die er ihnen manchmal übersetzte, sahen die Sachbearbeiter – er liebte diesen Ausdruck – immer nur auf dem Papier. Sie bekamen Fälle vorgelegt, beschrieben. Sie studierten Polizeiprotokolle, Zeugenaussagen, Obduktionsbefunde und entschieden dann über eine Entschädigung. Über Schuldanteile. Klageerhebung. Gerichtsprozesse. Leichen an der Schnellstraße bergen und im Unterholz nach dem abgerissenen Unterschenkel eines Radfahrers suchen, das machten andere.
    Aber was man Muschter auch vorwerfen wollte – sein Porträt als Kleinbürger war rasch skizziert, Reihenhaus bei Köln, seine Ehefrau, ein blondes Weibchen, girrend stolz auf die Karriere ihres Mannes, dazu Tennis, Urlaub auf den Malediven –, Konrad mochte ihn, und Muschter war für ihn eine Autorität. Nicht nur wegen seiner Position: Als Leiter der Schadensabteilung hatte er sein eigenes Kästchen im Organigramm. Sondern wegen seiner Person. Muschter hatte Format. Vor allem Mut. Es war nicht selbstverständlich, einem Quereinsteiger wie Konrad solche Aufträge zu geben – er wurde nicht nur auf Diebstähle angesetzt, bald hatte er auch Anfragen aus anderen Abteilungen erhalten, zum Beispiel der Lebensversicherung, wenn ein suspekter Todesfall in Osteuropa zu klären war. Wenn etwas schiefging, fiel es auf Muschter zurück, er stand

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